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Whib´s Story – Folge 2: Ein Kriegslied

24. April 2024

8 Minuten Lesedauer

Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden.

Dies ist Folge 2: ein Kriegslied. Wir möchten darauf hinweisen, dass der folgende Text von Krieg und Gewalt handelt. Aussagen zu dem erlebten Kriegsgeschehen sind persönliche Einschätzungen der handelnden Personen und spiegeln nicht zwangsläufig die offizielle Haltung der well:fair foundation wider.

Jedes Kind weilt wahrscheinlich eine Weile in dem Glauben, dass die Welt, die es erlebt, die Welt ist. Dass es nur die eine ist, die es gibt. Als Kind, sagt Whib, kannte er nur das Land, auf dem er lebte, wie hätte er etwas von der Stadt ahnen sollen? Auf dem Land wurden Kühe und Schafe und Ziegen gehütet, wie könnte es irgendetwas anderes zu tun geben? Die Tiere waren seine Verantwortung, seit er sechs Jahre alt war. Diese Sache muss man sich einen kurzen Moment lang vorstellen, als wäre sie ein Bild, die Information wird ein Gemälde, ein eingefrorener Zustand. Ein kleiner Junge, und um ihn herum sind ausgestellt: zwanzig bis dreißig Schafe, fünfzehn Ziegen, drei Ochsen, ein Esel. Und nun laufen alle heraus, aus diesem Stilleben, das in der Realität ohnehin nie so existiert hat. Die Herde setzt sich in Bewegung, vor allem die Ziegen und die Schafe sind schnell und wuselig und nicht an der Stelle, wo sie noch eben waren. Sie brechen zu allen Seiten aus und der Junge läuft hinter ihnen her, über eine hügelige Landschaft aus Steinen, um sie zusammenzuhalten und an eine Wasserstelle zu geleiten.

Wie lange musstet ihr jeden Tag gehen, Whib?

„Während der Trockenzeit eineinhalb Stunden am Tag, vielleicht zwei. Vor allem die Ochsen waren langsam. Du kannst ja nicht normal gehen. Auch die Ziegen bleiben überall hängen und du verschwendest hier und da Zeit.“

Hast du gerufen, um sie beisammen zu halten?

„Ja, ‚komm, komm‘, rief ich andauernd. Und die Ochsen hatten Namen, die rief ich auch immer wieder. Nach einer Weile hörten sie darauf und drehten bei ihrem Namen ihr Gesicht zu mir. Ich habe auch viel gesungen.“

Was hast du gesungen?

„Verschiedene Lieder.“

Erzähl mir von einem.

„Zu der Zeit hatten wir Guerillakämpfer in der Region, die gegen die Regierung waren. Sie hatten Lieder, mit denen sie die Jüngeren überzeugen wollten, auch zu kämpfen. Sie brachten darin ihre politischen Botschaften unter, aber als Kind verstehst du Politik nicht, du interessierst dich nur für den Klang der Stimmen. Also habe ich diese Lieder gesungen.“

Erinnerst du sie noch?

Die Antwort kommt zögerlich. „Ich habe nie versucht, mich zu erinnern. Aber ich denke, ich erinnere sie. Nicht alle, aber einige.“

Dann sing mir was vor!

Whib lacht und beginnt tatsächlich zu singen. Sanft und zart klingt es, melancholisch, dann hat es wieder was Unbeschwertes. Es fühlt sich an, als würde dieser Gesang nie aufhören, kein Dreiminutenstück, das irgendwann stoppt, eher ein Grundrauschen, ein nie endenwollendes Gebet, dabei hört Whib schon nach 25 Sekunden auf. „So zum Beispiel“, sagt er, und schmunzelt.

Wunderschön, sage ich. War das wirklich ein Kriegslied?

„Ja. Es geht um ein Kind, das den Vater verloren hat, und die Mutter fragt: Wo ist mein Vater? Warum sagst du es mir nicht? Wo ist er? Und die Mutter antwortet: Bitte mein Kind, frag mich nicht nach deinem Vater, geh und mach deine Arbeit, bitte verletz mich nicht. Bitte lass mich allein. Dann sagt das Kind: Wenn du es mir nicht erzählen willst, werde ich die Leute fragen und so die Wahrheit herausbekommen. Nach vielen Dialogen sagt die Mutter zu ihrem Kind, dass der Vater kämpfen gegangen ist, um seine Leute zu schützen, dass er ein angesehener Mann war, gut zu der Familie, gut zu den Kindern, dass er aber sein Leben den Menschen geopfert hat. Dass er für sein Volk gestorben ist. So waren die Zeiten damals: Viele Männer gingen kämpfen und kamen nicht wieder.“

Auch Whib wuchs auf dem Land ohne Vater auf. Allerdings war sein Vater nicht in den Krieg gegangen, sondern in die Stadt, um zu studieren. Er war vor allem spürbar durch das Geld, das er, zunächst als Wächter in einer Schule, verdiente. Und auch wenn es nicht viel war, reichte es für Zucker, Kaffee und ein bisschen Kleidung. Das alles schickte er zur Familie. Anders als viele andere Kinder, die für mehrere Jahre dasselbe Stück Kleidung trugen, war Whib so im Besitz von mehreren Sachen und machte daraus ein Geschäftsmodell: Wenn eine Ziege weit davon gelaufen war, fragte er einen Jungen, sie wieder zu holen. Im Gegenzug durfte der Junge einige Minuten seine Jacke tragen.

Whib, das sagen ihm die Älteren heute noch, galt als ein Junge mit einem großen Verantwortungsbewusstsein, ernst, fürsorglich und sorgsam. Wenn die Mutter ihm etwas zu essen gab, fragte er sofort: Und was ist mit meinem jüngeren Bruder? Bekommt er auch etwas? Ich kann nicht alleine essen, ich werde mit ihm teilen. So war er auch im Umgang mit den Tieren. Jeden Tag, wenn er mit der Herde zurück nach Hause kam, zählte er durch. Fehlten ein oder zwei Ziegen, rannte er so weit zurück, bis er das verlorene Tier gefunden hatte. Meist gelang ihm das, es sei denn ein Fuchs war schneller. Seine Tage bestanden aus dem immer gleichen Rhythmus: Um sieben Uhr aufstehen, etwas essen, dann raus aufs Feld, zurückkommen gegen fünf oder sechs, wenn die Sonne unterging. Am Abend dann saß er mit der Familie zusammen an einem großen Baum. Sie teilten Essen und eine Gaslampe, machten ein Feuer und erzählten sich Geschichten. Wenn er schlafen ging, dann in dem Bewusstsein, dass der neue Tag mit der Aufgabe des vergangenen Tages beginnen würde.

Weil der Vater in der Stadt war, hatten sich die Eltern getrennt, die Mutter lebte mit einem anderen Mann zusammen. Whib wohnte mit sechs Jahren im nächstgelegenen Haus, bei seinen Großeltern. Er und seine Mutter waren also Nachbarn. In dieses Leben, das, so scheint es in Whibs Erzählungen, im immergleichen Takt der Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge, der Trocken- und Regenzeiten verlief, brach beständig etwas herein: die unkalkulierbare Gewissheit des Krieges und der Gewalt. Der äthiopische Bürgerkrieg, bei dem unterschiedliche Rebellengruppen gegen die kommunistische Zentralregierung kämpften, dauerte von 1974 bis 1991. Whib, der 1977 geboren wurde, wuchs damit auf.

Wie hast du den Krieg erlebt?

„Die Guerillakämpfer waren in unserer Gegend, aber wir hatten keine Angst vor ihnen. Sie waren aus Tigray und sie wollten die Leute ihrer Ethnie auf ihrer Seite haben. Also brachten sie uns Lieder und Tänze bei und rekrutierten von den Familien neue Kämpfer. Angst hatten wir vor den Regierungskämpfern, denn die haben die Leute erschossen, von denen sie dachten, dass sie mit den Guerillakämpfern kooperieren: Wenn wir sie kommen hörten, rannten wir alle weg. Wir mussten die Tiere mitnehmen, sonst nahmen sie sie mit. Das Vieh aber ist lahm. Ich erinnere, wie wir es antrieben, damit es schneller lief. Von überall schrien die Leute: Sie kommen, sie kommen, wo sind die Tiere? Wo ist dein Bruder? Wo sind deine Kinder? Lauft! Es war eine sehr furchterregende Zeit. Mütter, die mit ihren Kindern auf dem Rücken und an den Händen rannten, und dann hinfielen. Der Boden im Hochland ist ja nicht sehr eben. Diese Bilder habe ich im Kopf. Einmal kamen sie zum Haus meines Onkels, dem Bruder meiner Mutter. Sie wollten wohl seine Ochsen mitnehmen. Er hatte drei. Er wollte das verhindern und soll sie angebettelt haben. Dann brannten Häuser und er war verschwunden. Die Leute erzählten sich, dass sie ihn wohl ins Gefängnis gesteckt haben müssen. Dort war er aber nicht. Nach einigen Tagen fanden Mädchen, die Feuerholz suchten, eine Leiche in einem Fluss. Es war mein Onkel, er war erschossen worden. Ich war vielleicht acht damals. In meiner Erinnerung ist vor allem die tiefe Traurigkeit meiner Mutter geblieben. Und wie ich sie immer weinen hörte.“

Du warst ein Kind. Wie ging es dir mit dem Tod? 

„Sein toter Körper wurde zur Kirche gebracht, er sollte verbrannt werden. Ich erinnere, dass ich den Körper sah und dachte: Das ist mein Onkel. Also muss ich nun weinen. Leute versammelten sich, ich schaute mir die ganze Szenerie ein bisschen aus der Distanz an, ich war dort mit den Tieren. Ich versuchte zu weinen, aber ich bekam keine Träne heraus. Ich muss doch weinen, ich muss doch weinen, sagte ich mir, aber da kam keine Träne. Also hatte ich eine Idee: Ich nahm etwas Spucke aus dem Mund und strich sie unter mein Auge.“

Wir müssen lachen, als er das erzählt. Whib, wenn es nicht um so viel Brutalität und Menschenleben ginge, könnte es einem Kind fast wie ein Spiel erscheinen: Kommen – wegrennen.  

„Ich wusste, dass es kein Spiel war, dafür hatten alle viel zu viel Angst. Aber ich wusste auch nicht, worum es ging. Es passierte vielleicht ein, zwei Mal im Monat, manchmal einige Monate gar nicht. Immer galt: Wenn sie kommen, rennen. Sonst töten sie dich. Ich muss fünf gewesen sein, als meine Oma mich auf ihrem Rücken trug und mit mir wegrannte. Eine Kugel flog an uns vorbei, direkt an meinem Ohr. Ich konnte sie hören.“

Als Whib und ich das erste Mal über Krieg gesprochen hatten, sollte es eigentlich um die Kindheit gehen. Nun, als wir über die Kindheit sprechen, geht es auch wieder um Krieg. In unseren Gesprächen wirkt es, als stolpere er einfach immer wieder herein – reinstolpern ist natürlich eine viel zu saloppe und niedliche Formulierung für einen Krieg; ein Ereignis, das mit einem Mal alles verändert; Gewohnheiten und Sicherheiten außer Kraft setzt. Wie muss es sich für ein Kind anfühlen, wenn der Krieg plötzlich das, was sonst galt, verdrängt, vertreibt; wenn er die Abläufe, wie sie normalerweise verlaufen, zunichte macht; was macht er dann alles zunichte? Was bedeutet es für ein Kind, wenn immer wieder Gewalt hereinbricht? Und bei aller Unterschiedlichkeit der Kindheiten, die wir verlebten, versuche ich ein Band zu ziehen: Was verbindet das Kind, das ich war, mit dem Kind, das Whib war? Sehnsüchtig wartete ich auf kalkulierbare Ereignisse im Kalenderjahr, Weihnachten natürlich. Auf welches Ereignis hast du dich gefreut, als du ein Kind warst, Whib?

„Auch auf einige Feiertage, denn dann waren wir mit Freunden zusammen und es gab Zeremonien. Unser Weihnachten feiern wir nach der orthodox-christlichen Tradition in der ersten Januarwoche, wir nennen es Lidet. Für das Fest bereiteten wir Kinder uns einen speziellen Stock vor, wir zogen einen Teil der Baumrinde ab, hielten ihn ins Feuer. Dann gingen wir mit ihnen tanzend von Haus zu Haus und fragten überall nach Brot. Wir waren eine Gruppe von zwanzig, dreißig Kindern, die umherzogen, tanzten und sangen. Die Leute wussten, das wir kamen und hatten das Brot für uns vorbereitet. Das, was wir bekamen, sammelten wir und aßen es zum Schluss alle zusammen unter einem Baum.“ 

Hast du dir als Kind etwas anders in deinem Leben gewünscht?

„Ich hatte einfach das Leben in der Gemeinde. Du wirst größer und irgendwann denkst du ans Heiraten, das ist vielleicht das einzige, das du dir dann wünscht. Aber als Kind ist das Leben, wie es ist.“

Während des gesamten Gesprächs über seine Kindheit habe ich Whib nicht gesehen. Da die Verbindung immer wieder hakte, hatte er die Kamera ausgemacht, und ich sah, sobald er redete, nur ein vibrierendes W, den Anfangsbuchstaben seines Vornamens. Das einzige, sagt Whib als wir am Ende angekommen sind, was ich durch das fehlende Bild verpasst habe, sei ein Typ mit einem langen Bart, der länger und länger wird. 

Warum rasierst du dich denn nicht, Whib?

„Ich habe dir doch letztens erzählt, dass der Sohn meiner Schwester gestorben ist. Unsere Tradition ist, dass wir das Haar nicht schneiden, wenn jemand aus der Familie gestorben ist. Wenn du der Toten gedenkst, dann kümmerst du dich nicht um dich selbst. Morgen fahre ich zu meiner Familie. Wir erwarten, dass uns nun auch der Tod meines Bruders bestätigt wird, von dem wir bislang ja nichts gehört haben. Wahrscheinlich ist er im Krieg gestorben. Wenn du mich das nächste Mal siehst, wirst du es wissen.“

Die Autorin

Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.