Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden.
Dies ist Folge 1 der zwölfteiligen Serie. Wir möchten darauf hinweisen, dass der folgende Text von Krieg und Gewalt handelt.
Es ist kein gewöhnlicher Anruf, den ich nun mache: Es ist der Anruf bei einem Helden. So wurde er mir angekündigt. Seine offizielle Berufsbezeichnung ist Hydrogeologe. Alles, was ich noch von ihm weiß, hat mir Neven erzählt, als wir gemeinsam an dem Buch Alles Geben arbeiteten, und uns zusammen der Frage näherten, wie aus Neven der wurde, der er heute ist; warum er sich neben seiner Karriere als Profifußballer entschloss, eine Stiftung zu gründen, die heute well:fair heißt. Wir sprachen über Menschen, zu denen er aufschaut, an denen er nicht einfach nur vorbeilief, sondern von deren Art zu leben er sich ein Stück mitnahm; Menschen, deren Fan er ist. Neven war es also, der ihn, den ich nun anrufen möchte, einen Helden nannte. Er wuchs auf dem Land auf, ohne Infrastruktur, ohne Wasser, erlebte Krieg, zog in die Stadt, ging zur Schule und studierte. Der Held ist für Neven ein Held, weil er mit dem, was er sich in seinem Leben angeeignet hat, noch viel mehr anhäufen könnte: klassisches wirtschaftliches Kapital. Stattdessen hat er mehrere Jahre bei der NGO REST, der äthiopischen Partnerorganisation der well:fair Stiftung, gearbeitet und dort ein Team geleitet. Dann akquirierte ihn Neven, und seit 2020 ist er bei well:fair. In den vergangenen Jahren war er an dem Bau von rund 6000 Brunnen beteiligt.
Helden aus unterschiedlichen Welten
Woher, fragte sich Neven, kam bei ihm der Impuls, sein Leben den Menschen auf dem Land zu widmen? Menschen Wasser zu bringen: Warum ist dies seine Aufgabe, warum gibt er sich dem hin? Neven hat auf diese Fragen keine Antworten bekommen, was auch daran liegen mag, dass er die Fragen nie gestellt hat. Das ist der Grund, warum ich ihn nun anrufe. Ich will verstehen, wer der Held ist; warum er macht, was er macht.
Neven hat sich nach Millionen verdienter Euro, die, wie er heute findet, in falsch investierte Exzesse flossen (plakativer Schnelldurchlauf: Frauen, Autos, Villa mit Jacuzzi, Dubaireise) entschieden, sein Leben ganz einer Sache hinzugeben: seiner Stiftung, und damit dem, was größer ist als er selbst, der globalen Gerechtigkeit. Auch wenn er das nicht gerne hört, ist er damit für viele Menschen ein Held: Was verbindet Neven mit seinem Helden? Ist die Hingabe, die beide leben, dieselbe? Oder was unterscheidet sie? Und was ist das eigentlich: Hingabe? Was veranlasst uns Menschen, egal wo auf der Welt, uns anderen hinzugeben? Was bedeutet es zu handeln, Verantwortung zu übernehmen? Was bedeutet Gerechtigkeit für diesen Menschen in Äthiopien? Das will ich mit ihm besprechen. Ein Jahr wollen wir uns Zeit nehmen, um auf diese Fragen Antworten zu finden. Mehrmals im Monat werden wir miteinander reden, über seinen Alltag, seine Herausforderungen; über das, wovor er sich fürchtet, wovon er träumt.
Nun sind wir zum ersten Mal verabredet. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer in einer Kleinstadt bei Berlin, er 7000 Kilometer entfernt in seinem Büro in Mek’ele, der Hauptstadt der Region Tigray ganz im Norden Äthiopiens. In seinem Videofenster kann ich von seinem Schreibtischstuhl gerade noch etwas rote Lehne erkennen, eierschalfarbene Wand, klassische helle Bürolamellen, durch die nur dumpfes Licht dringt. Der Held trägt weiße Kopfhörer und schaut geduldig, obwohl ich seit Minuten ein technisches Problem habe und meine Kamera nicht läuft. Das erste, was er macht, als sie endlich geht, und ich gesagt habe, dass ich ja einen Helden vor mir sehe, ist zu sagen, dass er – klassischer Heldenmove – bestimmt kein Held sei. Dann stellt er sich selbst vor: Er sei ein „professioneller Angestellter“, der für NGOs auf unterschiedlichen Positionen gearbeitet habe, seinen Werdegang rafft er in drei Sätzen zusammen.
„Warst du schon mal in Äthiopien?“, fragt er dann. Nein, sage ich, und versuche schnell die Distanzen in meinem Kopf zu messen: Ich war in Namibia und in Marokko, aber selbst wenn dies afrikanische Länder sind, sind beide von Äthiopien fast so weit entfernt wie ich es nun auch bin. Am nächsten an Äthiopien ran kam ich wohl in Ägypten, sage ich. Und dann: Ich weiß also so gut wie nichts von deinem Leben. Wollen wir bei den Anfängen beginnen?
Seine Geschichte beginnt im September 1977, da wurde er geboren und bekam den Namen Whibeslassie. Das bedeutet: Geschenk der Dreifaltigkeit. Genannt wird er Whib, Geschenk. Whib wuchs in einer Gegend ohne Schule auf, die Kinder auf dem Land trugen für drei oder vier Jahre ein und dasselbe Kleidungsstück, hatte es Löcher, wurden sie wieder zugemacht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwo einen Ort mit einem anderen Leben gab; einen Ort, an dem nicht Kühe, Ziegen und Schafe gehütet werden. Genau das sah der Lauf der Dinge für ihn vor: Schäfer oder Landwirt zu werden.
Hattest du andere Träume, frage ich. Wolltest du etwas anderes werden? Lehrer, Ingenieur, Pilot vielleicht?
„Als ich ein Kind war, wusste ich nichts von alldem. Ich hatte nie einen Lehrer gesehen. Nie einen Ingenieur, keinen Piloten, keinen Arzt. Wie kann ich von etwas träumen, von dem ich gar keine Ahnung habe?“
Wir verabreden uns für eine Woche später, um ausführlicher über seine Kindheit zu sprechen, aber Whib ist nicht zur abgemachten Zeit online. Alleine sitze ich vor dem Bildschirm, sehe mein eigenes Gesicht auf dem Desktop und wie es Minute für Minute ungeduldiger wird: Warum ist er nicht da? Hat er mich vergessen? Warum meldet er sich nicht? Zwanzig Minuten später: „Entschuldigung“, sagt er, „der Strom“. Ich versuche seine Stimmung zu scannen und sage: Du schaust müde aus. Wie geht’s dir? Er: „Tigray geht es nicht gut. Viele Menschen erfahren gerade, dass eins ihrer Kinder im Krieg gestorben ist“. In dem Moment, in dem er den Satz ausgesprochen hat, friert sein Bild ein, die Verbindung bricht und ich bin wieder allein – allein mit der Wucht des Satzes und der Scham, mich über zwanzig verlorene Minuten geärgert zu haben.
Als er nach einigen Minuten wiederkommt, redet er sofort weiter: „Überall gibt es gerade Nachrichten über tote Kinder. Meine Schwester verlor auch ihren Sohn, ich war gerade bei ihr. Sie ist Lehrerin und lebt in der Stadt. Er war ihr ältester Sohn, 18 Jahre alt, als er zur Armee ging. Er sagte seiner Mutter damals nichts davon. Ich weiß schon länger, dass er tot ist. Mein Bruder hat es mir erzählt, er war dabei, als er starb. Er hat es mir vor mehr als einem Jahr gesagt. Aber da war noch Krieg und ich behielt es für mich, es war unser Geheimnis. Erst jetzt haben wir es ihr erzählt. Ich habe noch einen anderen Bruder, der in der Armee war. Wir wissen nichts von ihm. Jetzt, wo kein Krieg mehr ist, hätte er ja zurückkommen können, aber er ist nicht aufgetaucht. Zu neunzig Prozent, denke ich, ist er tot.“
Statt über die Kindheit reden Whib und ich mit immer wiederkehrenden Unterbrechungen nun eineinhalb Stunden über den Krieg, der im November 2020 zwischen der Zentralregierung unter Premierminister Abiy Ahmed und der lange in Tigray regierenden Tigray Defence Forces begann – und mit seinen Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen als einer der weltweit blutigsten Konflikte der vergangenen Jahre gilt. 600.000 Menschen starben. Nach zwei Jahren unterzeichneten die beiden Parteien eine Friedenserklärung, und für Whib ist das Leben jetzt zwar, so sagt er, besser als im Krieg, aber mehr als ein Jahr im Waffenstillstand bedeutet für ihn keinen Frieden: Dafür gibt es zu viele Instabilitäten und Unsicherheiten in der Region und auch im ganzen Land. Der Westen Tigrays ist weiter von Kämpfern besetzt, die Zentralregierung ist im Konflikt mit den großen Volksgruppen der Amharen und der Oromo, die Spannungen zwischen den vielen Ethnien im Vielvölkerstaat sind hoch. Es ist unmöglich, all die Details hier aufzulisten, und diese Serie soll auch nicht dazu dienen, sich auf die Seite einer Gruppe zu schlagen, sie soll eine Ahnung davon geben, wie sich das Leben eines Menschen anfühlt – eines Menschen, der in einem Land, das muss man wohl so sagen, multiplen Leids lebt: Zu den Taten expliziter Gewalt kommen eine akute Hungersnot, Dürre, nicht oder schwer ankommene Hilfslieferungen, geschlossene Schulen, die Inflation liegt bei 30 Prozent. Es ist diese Summe, die Whib nun sagen lässt: „Frieden im Inneren bekommen wir nicht.“
Whib, sage ich, ich bin in der privilegierten Position, niemals Krieg erlebt zu haben. Kannst du mir erklären, wie das ist? Wie ist es zu realisieren: Jetzt kommt Krieg?
„Als die Kämpfer auf den Weg nach Mek’ele waren, versuchten viele, die Stadt zu verlassen. Auch meine Frau wollte das und zu ihrer Familie. Aber die Hauptstraße war bereits besetzt. Ich fragte sie: Wie sollen wir rauskommen? Sie wollte über abgelegene Wege, aber ich fühlte mich damit nicht sicher. Also beschloss ich, dass wir in der Stadt bleiben, was auch immer passieren würde. Es gab Raketen und Bombardierungen aus der Luft. Meine Frau und unsere Kinder versteckten sich mit Nachbarn in einem unfertigen mehrstöckigen Gebäude, im Keller. Sie nahmen Essen mit dorthin, weil sie nicht wussten, wie lange sie dort bleiben würden. Es war nicht weit von uns zu Hause entfernt. Zu Hause war ich. Denn ich musste darauf aufpassen. Du weißt ja nicht, was im Krieg passiert. Gefangene liefen umher, jeder konnte deinen Besitz nehmen. Du kannst alles verlieren im Krieg, alles, was du hast. Ich kenne Mütter, die zwei Kinder verloren haben, und Familien, die den Vater verloren haben und dadurch, dass er für das Einkommen gesorgt hatte, kein Geld mehr haben, kein Brot. Du kannst deine Beine verlieren, deine Ohren, deine Augen, deinen Atem.“
Ich versuche, mir das noch vorzustellen: Dieses Bild, Whib allein im Haus und die Familie nah, aber gefühlt doch weit weg, an einem anderen Ort. Was hast du gemacht, während du im Haus warst, was hast du gedacht, Whib?
„Es waren kaum noch Nachbarn da. Ich wusste, dass ich schnell in großer Gefahr sein kann, also verbot ich mir zu schlafen. Ich sagte mir: Wenn du schläfst, kommt jemand, tötet dich und nimmt den ganzen Besitz. Du musst alles dafür tun, dass das nicht passiert, und einfach die ganze Nacht irgendwo sitzen.“
Du hast also einfach da gesessen?
„Ja“, sagt er, und hebt die zu Fäusten geballten Hände rechts und links an den Kopf, zieht den Kopf ein wie eine Schildkröte, die sich schutzsuchend in sich zurückziehen will, seine Augen drehen sich in Furcht nach rechts, nach links, nach rechts, nach links.
Genau so?
„Das ist alles, was du machen kannst.“
Dann atmet er tief aus.
„Lass uns für heute hier aufhören.“
Die Autorin
Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.