Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden. Dies ist Folge 9 der zwölfteiligen Serie.
Whib erläutert die Einsatzweise von Wassertanks in Tigray, Äthiopien.
Man sagt – genauer: es war Augustinus, der das zu seinen Zeiten mal von sich gab – die Welt ist ein Buch, und wer zu Hause bleibt, sehe nur eine Seite davon. Whib verreist selten, und wenn dann nur innerhalb seines Landes. Bislang war er einmal im Ausland: für einen Workshop im Nachbarland Kenia. Er bekommt aber immer wieder Besuch aus anderen Ländern und von anderen Kontinenten. Vor kurzem, erzählt er mir zu Beginn eines Gesprächs, waren eine Woche lang Gäste da, die in Kenia und Tansania für die Partnerorganisationen der well:fair foundation arbeiten. Sie haben vor allem im Büro gesessen und geredet, waren aber auch an einigen Projektstandorten und haben ein bisschen Sightseeing gemacht, Plätze angeschaut, an denen es bedeutsame historische Schlachten gab, und Aksum, eine um Christi Geburt blühende Handelsstadt. Es sind im ersten Moment nur kurze Infos, eine knappe Aufzählung auf meine Frage, was Whib in den vergangenen Wochen beschäftigt habe. Er vermerkt den Besuch wie eine Randnotiz, bewertet mit den Worten: „Grundsätzlich war alles okay.“
Besucher:innen der Organisationen AMREF und PDF im Büro von REST.
Dann stelle ich eine simple Nachfrage, sage schlicht: Hast du die Leute zum ersten Mal getroffen? „Ja, ja“, sagt er. Und wie war das?, hake ich nach. Bei der Antwort, die Whib daraufhin gibt, und bei dem Gespräch, das sich daraus entspinnt, merke ich, dass Augustinus im Fall von Whib Unrecht hat. Oder dass er zumindest die Möglichkeit nicht im Blick hatte, dass es noch mehr ist, was uns auf die anderen Seiten schauen lässt; dass es schon früher beginnt: durch die Begegnung mit Anderen, Fremderscheinenden, durch Reibung. Es braucht nur wenige Sätze von Whib bis sich aus der Beschreibung des vermeintlich Alltäglichen, dem Besuch von acht Kollegen und einer Kollegin in seinen Worten ein großes Gesellschaftspanorama darüber entfaltet, warum wir werden wie wir sind und was wir aus dem machen können, wer wir geworden sind. Die wichtigste Passage des Gesprächs, das am Ende vor allem ein Aufruf zur Freiheit ist, möchte ich hier teilen.
Whib erklärt seinen Kolleg*innen von AMREF und PDF ein Projekt in Tigray.
Whib, wie war es mit deinen Gästen? Seid ihr sehr unterschiedlich, oder war es leicht zusammen zu kommen?
„Da sind einige Unterscheide. Sie sind freier als wir. Wir in Äthiopien reflektieren unsere persönlichen Belange nicht so sehr. Wir sind viel reservierter als sie. Sie erklären freier, was sie wollen.“
Was meinst du damit, wenn du sagst: freier?
„Es gibt unterschiedliche Wege zu erklären, was du willst. Unterschiedliche Arten, damit umzugehen.“
In welcher Situation hast du deine Gäste freier erlebt?
„Zum Beispiel… Wir waren in einem Restaurant, und wenn ich neu in einer Gegend bin, dann nehme ich das, was man mir gibt. Ich glaube, ich würde mich niemals in einem anderen Land beschweren, weil ich ja der Neue bin. Ich würde nichts an der Menge auszusetzen haben, die man mir gibt. Ich würde nicht sagen: Gib mir mehr. Ich würde denken, das ist eben die Art, wie sie es machen, und ich nehme es so an. Einige der Gäste sagten aber im Restaurant: Bitte gib mir mehr, gib mir mehr. Ich würde nicht nach mehr fragen, selbst wenn ich mit der Menge unzufrieden wäre. Wenn ich noch hungrig wäre, würde ich einen anderen Weg suchen, um es zu kompensieren.“
Ein gemeinsames Abendessen in Mekelle, Tigray.
Als du die Gäste so erlebt hast, dachtest du: Wie verhalten die sich bloß? Oder: Wow, sie stehen für sich ein?
„Ich fragte mich, warum ich nicht nicht genauso wie sie für das einstehen kann, was ich möchte. Es geht ja um dein inneres Verlangen. Wenn du damit anderen nicht schadest, ist es eine gute Sache, dich selbst zufrieden zu stimmen.“
Das heißt, du hast sie bewundert?
„Bewunderung geschieht aus dir heraus… Du bewunderst jemanden, wenn er etwas macht, wozu du nicht fähig bist. … Also ja, ich habe ihr Verhalten sehr begrüßt.“
Hast du deine Gefühle mit ihnen geteilt?
„Nein, das machte ich nicht. Wir haben nur professionell geredet. Wenn ich ihnen das gesagt hätte, hätte ich sie vielleicht beeinflusst. Wenn ich gesagt hätte: So wie ihr seid, ist es hier nicht üblich, wären sie den nächsten Tag vielleicht anders gewesen.“
„Ich fragte mich, warum ich nicht nicht genauso wie sie für das einstehen kann, was ich möchte.“
Du schautest ihnen also mit einer gewissen Sehnsucht zu? Ist das richtig?
„Ja, denn sich frei auszudrücken, ist eines unserer Probleme. Es liegt an unserer Tradition, die unser Verhalten beeinflusst. Zum Beispiel reden wir nicht im Beisein von Älteren, der Raum gebührt erst ihnen. Wenn Ältere da sind, verhältst du dich ruhig. Du musst dich also zurückhalten, vielleicht etwas in dir unterdrücken, so dass du deine inneren Gefühle oder Belange nicht offenbarst. Wenn du dir mehr Raum nimmst, mögen sie dich vor allem in den ländlichen Gebieten nicht. Man wird dich dort als unehrlichen Typen oder so etwas wahrnehmen. Bist du still, wirst du respektiert. Alles, was du also machst, hat gewisse Grenzen. In den Städten verändert sich das langsam. Aber die Tradition, die tief in uns ist, hindert junge Leute daran sich zu zeigen, auch ihre Fähigkeiten und Talente zu zeigen. … Und dann ist da natürlich die Sprache. Dadurch, dass Äthiopien eines von zwei Ländern in Afrika ist, das nicht kolonialisiert wurde, sprechen hier weniger Menschen Englisch als anderswo. Auf dem Land sprechen sie ihre lokalen Sprachen, in der Stadt die Amtssprache Amharisch, Englisch können aber nur wenige. In Kenia sprechen sogar die ungebildeten Leute auf dem Land Englisch, es gibt dort nur ganz wenige, die es nicht können. … Auch das macht sie freier.“
Die Gruppe an einer verunreinigten Wasserstelle einer Gemeinde in Tigray, Äthiopien.
Whib, was wünscht du dir für deine Kinder – wie sollen sie leben?
„Meine Kinder motiviere ich dazu, anders zu werden – anders als ich. Als ich auf dem Land aufwuchs, war ich kein Ich will-das-ich-will-das-Kind. Es war klar: Wer so ist, ist ein schlechtes Kind. Ein gutes Kind ist eines, das empfängt, was ihm gegeben wird, das gehorcht. Daher sagte ich niemals in meiner Kindheit: Ich will das. Nicht mal, wenn ich hungrig war, bat ich um Essen. Sie mussten es mir geben. Ich sage meinen Kindern nun, dass sie ganz frei aussprechen sollen, was sie wollen. Wenn sie das machen, bin ich glücklich. Ich möchte Freiheit. Und mich nicht nur an die Grenzen von dem stoßen, was andere erwarten. Ich kenne das so lange, und der Unterschied zwischen dem, was ich fühle, und dem, was ich sage, ist sehr groß. Wenn ich früher beispielsweise von meiner Schwiegermutter schlecht behandelt wurde, dann nahm ich es einfach hin. Ich reflektierte nicht, warum ich nicht anders damit umging. Ich überlegte dann, was passiert wäre, wenn ich es angesprochen hätte: Sie hätte aggressiv werden können oder der Konflikt hätte einen weiteren Konflikt hervorrufen können, oder oder… Ich habe seitdem viel nachgedacht und verstanden, dass es die Freiheit ist, die dem Kind fehlt.“
Whib mit seinen Kollegen Dennis und Moses der Kenianischen Organisation AMREF Health.
Die Freiheit, von der du sprichst, beschränkt sich aber nicht nur auf die Familie?
Nein, auch in der Gesellschaft werden die wirtschaftlich schlechter gestellten Leute nicht gehört, sie werden nicht gut behandelt und schweigen. Weil ich vom Land komme, kenne ich beispielsweise die Umstände der Landwirtschaft dort, und ich möchte den Menschen dort helfen, und das heißt vor allem, dass sie beginnen zu verstehen, wie sie sich innerlich fühlen. Sie müssen erklären können, was sie brauchen, damit sie ihren Bedürfnissen nach behandelt werden können. Am Ende ist es wie bei meinen Kindern: Ich ermutige sie, frei über ihre Bedürfnisse zu sprechen. Wenn sie es nicht tun, wenn wir unsere Ideen nicht austauschen, ist es schlecht für unsere Beziehung. Dann kenne ich ihre Gefühle nicht und kann ihnen nicht helfen. Das gebe ich ihnen mit, denn das ist es, woran es mangelt. Das habe ich in meinem Leben gelernt.“
Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.