Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden. Dies ist Folge 9 der zwölfteiligen Serie.
Whib, manchmal gibt es Sätze, die uns ein Leben lang prägen – Worte, die so stark sind, dass wir in ihnen wohnen, von ihnen zehren, dass sie wie eine blinkende Botschaft leuchten, wenn wir vor Dunkelheit nichts mehr sehen. Hast du solche Sätze in dir?
„Als Kind nimmst du viel von deinen Eltern mit, aus der Art, wie sie sich verhalten, auch Worte nahm ich von ihnen mit. Mein Vater versuchte immer allen zuzuhören. Und er sagte das auch den Leuten: Hört einander zu. Vor allem Menschen aus den unteren Schichten. Er sagte zu mir, dass es egal sei, ob jemand Hausmeister ist oder Experte, alle seien gleich wichtig, und sie sollten fühlen, dass sie alle gleich wichtig seien. Er bläute mir also ein, vor allem denen zuzuhören, die keine Stimme haben, damit sie nicht vergessen werden. Seine Worte kommen mir oft in den Kopf. Bei uns zu Hause arbeiten Frauen, die uns im Haushalt unterstützen. Mein Vater fragte mich mal, ob sie sich nicht weiterbilden wollten. Er sagte, dass ich nachfragen und bei einem Ja helfen solle. Ich fragte also nach, aber sie wollten nicht. Ich fragte sie, weil mein Vater dies gewollt hatte. In der Art und Weise, wie ich mit ihnen umgehe, ist viel von meinem Vater in mir und von seinen Worten.
„Es wird immer ein Problem geben. Ein Problem ist da, um von dir gelöst zu werden.“
Dann habe ich einen Satz im Kopf von dem Tigrayer Meles Zenawi, der bis 2012 Premierminister von Äthiopien war. Er sagte einmal: Es wird immer ein Problem geben. Ein Problem ist da, um von dir gelöst zu werden. Ich mag diese Worte, denn sie bringen dich dazu, dich jedem Problem zu stellen: Dinge passieren, gehe sie an. Du kannst Probleme lösen, du hast die Energie, du hast die Stärke. Wann immer sich mir ein Problem in den Weg stellt, kommen seine Worte in meinen Kopf. Ich glaube, der Premier sagte sie einmal im Parlament, als klar war, dass unserem Land viele Veränderungen bevorstehen würden. Sie waren sein Rat an die Regierung, ein Appell, alles zu geben, um die kommenden Probleme zu lösen: Ihr seid dazu beauftragt, sagte er. Und das denke ich nun auch in ganz unterschiedlichen Situationen. Ich brach seine Worte auf mich herunter: In schwierigen Situationen sage ich mir nun immer, dass es meine Aufgabe ist, dass es zu meinem Leben gehört, Probleme zu lösen. Dass ich glaube, die Fähigkeiten zu haben, dies zu tun. Zenawis Worte können in jeder Situation deines Lebens angewandt werden. Einige mögen denken, es gibt viel zu viele Probleme, man kann sie gar nicht alle lösen. Es bringt aber nichts, die Probleme aufzuzählen. Diese Art der Entschuldigung akzeptierte unser Premier nicht, und ich tue das auch nicht. Wenn ein Problem da ist, gebe ich alles, um es zu lösen. … Wenn ich an seine Worte denke, dann gibt mir das eine gewisse Art von Leichtigkeit: Denn ich weiß, ich werde jetzt etwas tun. Ich kann handeln.
Whib, seine well:fair Kollegin Elena und ein Museumsmitarbeiter am Martyr’s Memorial Monument in Mekele, Tigray.
Die Worte kommen wirklich oft in meinen Kopf… Auch kurz nachdem der Krieg begonnen hatte, waren sie da. Als wir keine Gehälter bekamen, als wir keinen Zugang hatten zu einer Bank. Kannst du dir vorstellen, dass du nicht an dein Geld kommst? Und deine Familie und deine Freunde haben auch keinen Zugang zu einer Bank. Du kannst nirgendwo hingehen, weil du überall draußen von Feinden umgeben bist. Du kannst niemanden fragen, und alle, die du kennst, sind in der gleichen Situation wie du. Niemand hat Zugang zu einer Bank. Mein Vater beispielsweise… Er bekommt nur eine kleine Rente, und an die kam er nicht ran. Meine Schwester… Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, und sie hatten kein Geld, gar nichts, null. Ich hatte etwas mehr Glück und etwas Geld da. Aber wir waren in einer Situation, in der es auch keinen Transport gab, keine Kommunikation, keinen Zugang zu irgendetwas. Ich brauchte lange, bis ich überhaupt von meiner Familie Informationen bekam. In dieser Situation erinnerte ich mich an die Worte des Premiers: Das Problem ist da, um von mir gelöst zu werden.
Whib und Neven im städtischen Kriegsmuseum in Mekelle, Tigray, November 2024.
Sechs Monate lang dauerte es, bis wir wieder an unser Geld bei der Bank kamen. Mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter fragten mich in dieser Zeit alle nach Geld. Viel hatte ich aber auch nicht. Kannst du dir vorstellen, wie das ist? Du machst dir Sorgen um deine Schwester, deinen Sohn, du fragst dich die ganze Zeit, wie kann ich Brot für sie bekommen? … Wir schafften es, durch die Zeit zu kommen, so wie viele andere Menschen es auch schafften, aber viele Menschen starben auch. … In solche Situationen bringt dich nur der Krieg. Die humanitäre Hilfe wurde blockiert und kam nicht mehr an, es dauerte lange Zeit, bis wir wieder angeschlossen waren. Wir waren wie eingeschlossen. … Der Krieg hier ist vorbei, aber er ist nicht vorbei in den Konsequenzen, die er brachte. Und er ist auch nicht ganz in mir vorbei. Wenn ich von anderen Kriegen Nachrichten lese, dann kann ich ihn fühlen, vielleicht mehr als du, die du noch nie Krieg erlebt hast. Vielleicht. Weil er in mir ist. Wenn ich vom Krieg in Gaza höre, macht es etwas anderes in mir als noch vor einigen Jahren. Ich weiß, was die Menschen erleben. Ich habe es erlebt. Und es ist nicht wegzukriegen. Es ist in meiner Erinnerung. Es verschwindet nicht.“
Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.