Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden. Dies ist Folge 7 der zwölfteiligen Serie.
Letztens war Whib verreist. Es war kein Ausflug in die Berge oder ans Meer, sondern zu den Brunnen, deren Bau well:fair in Zusammenarbeit mit der äthiopischen Partnerorganisation Rest fördert. Field trip, nennt es Whib. Zwei Mal im Jahr ist er zusammen mit einer kleinen Gruppe von Rest unterwegs. Eine Woche lang besucht er jeden Tag vier oder fünf Orte in einem zusammenhängenden Gebiet; trifft die lokalen Verantwortlichen und arbeitet die Checklisten ab; prüft, ob alles so funktioniert, wie es funktionieren sollte. Nachdem Whib mir seine Arbeit in kurzen nüchternen Sätzen beschrieben hat, frage ich ihn, ob er das eigentlich gerne mache, ins Feld zu fahren. Er sagt, und diese Worte kommen abrupt, fast atemlos: „Ja, ich mag das! Die Stadt zu verlassen, auf das Land zu fahren, belebt dich auf eine Weise. Du siehst eine andere Topographie, die Natur, du siehst Gemeinden, du siehst Projekte.“
Die Landschaft in Tigray, Äthiopien, die Whib auf seinen Field Trips durchquert.
Ist es das, was dich belebt, hake ich nach: Zu sehen, warum du das, was du den ganzen Tag machst, machst? Zu spüren, wofür es gut ist? Vielleicht ist das eine sehr westliche Sicht auf die Dinge: in seinem Büro verbarrikadiert zu sein, gefühlt immerfort zu ackern, und sich dann zwei Mal im Jahr den befreienden Blick raus zu holen: Ein Ah ja – dafür mach ich das, um wieder mit neuer Energie an den Schreibtisch zurückzukehren und weiterzuackern. Ist das bei Whib auch so?
„Alles“, sagt Whib, „belebt dich, einfach alles. Manchmal siehst du Dinge, die du schon mal gesehen hast. Das ist ähnlich, wie wenn ich nun die Texte lese, die du über mich schreibst. Das ist auch eine Reise für mich. Und wenn du aufs Land fährst, ist alles, was du siehst, verbunden mit dem, was du früher getan hast, mit deiner Arbeit, mit deiner Kindheit.“
Kannst du beschreiben, was dieses Mal hochkam? Welche Erinnerungen waren das?
„Es ist schwierig zu erklären: Manchmal sind es Bäume, die ich viele Jahre nicht gesehen habe und die mich erinnern lassen. Die Luft ist frischer, und auch die Bäume riechen, sie riechen so sehr, dass du eine Aufregung verspürst.“
An welchem Baum hast du gerochen?
„Ich kenne den Namen nicht, aber als ich ein Kind war, habe ich von ihm gegessen. Wir haben auch die Blüten von einem Busch gegessen, sie hatten innen einen ganz süßlichen Saft. Wenn ich sie heute probiere, bin ich glücklich; dann ist alles von früher wieder da.“
Wenn ich mit Whib spreche, versuche ich ihm nah zu kommen. Ich stelle Fragen, die weiter zu ihm durchdringen, die das abstrakt Geschilderte konkreter machen sollen. Manchmal passiert es dann, dass er, wahrscheinlich ohne es selbst zu merken, von einer Du-Erzählung in eine Ich-Erzählung wechselt, wie in diesem Dialog. Zu Beginn formuliert er: Manchmal siehst du auch Dinge, die du schon mal gesehen hast. Und am Ende: Wenn ich sie heute probiere, bin ich glücklich; dann ist alles von früher wieder da. Ich versuche mich zum Kern vorzuarbeiten, ihn noch näher zu sich selbst zu bringen; wie bei einer Matrojschka, jener russischen Puppenfigur, in der immer noch eine kleinere Puppe wohnt; versuche all die Barrieren, die wir offensichtlich haben (Sprache, Kultur, Entfernung, Technikprobleme…) zu durchbrechen; einen Schlitz zu finden, in einer gefühlt dicken Mauer, durch den ich dringen kann. Manchmal sind es kleine Löcher, die ich bohre, und die dann den Blick frei machen, die mich ihn sehen lassen. Nicht selten passiert es, dass wir bei einer Tiefenbohrung in die Kindheit gelangen: Whibs Stimme wird weich und sanft, seine Wortwahl beschreibender, seine Erzählung ausschweifender. Manchmal habe ich das Gefühl, den kleinen Whib – den, der die Tiere hütete; den, der die Lieder sang; den, an dessen Ohr eine Kugel vorbeiflog – besser zu kennen als den Whib, den ich regelmäßig in meinem Videochatfenster sehe. Wie kann das sein? Warum habe ich, was Whibs Vergangenheit betrifft, das Gefühl, im Kino zu sitzen und alles auf der Leinwand klar zu sehen, und sobald wir in der Gegenwart sind, werden die Bilder verschwommener? Warum kriege ich sie nicht zusammen, wird kein Zusammenhang daraus, kein Film? Ich versuche mich in sein Leben zu setzen – so beschreibe ich das oft, wenn ich erkläre, was ich mache: Doch muss ich eine andere Position einnehmen, um Whib ganzheitlich sehen zu können? Worauf fällt das Licht? Was sehe ich – was sehe ich nicht? Wo fehlen mir Fragen? Was bleibt mir verborgen und im Schatten? Welche Mauern sind zu dick?
Es kommt immer mal wieder vor, dass ich Whib frage, wie das Leben derzeit für ihn ist, was ihn beschäftigt, worüber er nachdenkt und mit seinem Freundeskreis spricht. Er sagt dann, dass ihn nichts mehr beschäftige als die Politik und wie sie in den Alltag wirkt. Immer wieder zählte er in den vergangenen Monaten Probleme auf, über die wir von Beginn an gesprochen hatten; Probleme, die nicht von einem Tag auf den anderen zu lösen waren: die große Masse an Binnenflüchtlingen, die sogenannten Internally Displaced People. Ihre Zahl hat sich seit Ende des Kriegs zwar wesentlich reduziert, aber es gibt Hundertausende, vor allem aus den Westen Tigrays, die noch nicht zurückkehren konnten, die nicht auf den Feldern arbeiten können, und damit nicht an ihrer Ernte und auch nicht an ihrer Unabhängigkeit. Dann natürlich: Arbeitslosigkeit; alte Leute, die seit Monaten keine Rente bekommen; Hunger; Dürre, von der die Regierung während des Krieges nichts wissen wollte. Es gebe Probleme, aber die seien zu bewerkstelligen, ließ sie wissen, und verweigerte ihre Hilfe. Das sei im Vergleich besser geworden, sagt Whib, aber unzureichend sei es noch immer. Diese Entwicklungen bespreche er jeden Tag mit seinem Freundeskreis. „Und selbst wenn es dir gegenwärtig gut geht, bist du für Morgen nicht sicher.“ Einmal sagte Whib zu mir, er müsse gleich nur von der Arbeit nach Hause gehen, dann sehe er viele Probleme: Menschen, die leiden; die nicht genug zu essen haben. Jeden Morgen fragten ihn Leute nach Nahrung. „Auf dem Weg zur Arbeit ist das meine tägliche Routine.“
Whib’s täglicher Weg zur Arbeit ins Gebäude der Partnerorganisation REST.
Wie verhältst du dich, wenn die Leute betteln?
„Du gibst ein oder zwei Mal. Wenn du zehn Mal gefragt wirst, gibst du nicht zehn Mal. Und du gibst eher den Müttern, den Alten, den Verletzten. Zu jungen Männern sagst du: Du kannst arbeiten gehen. Den anderen musst du was geben. Zu Hause gibt meine Frau den Leuten Essen. Wenn ich in der Stadt unterwegs bin, gebe ich Geld.“
Auch wenn dies nicht die alleinige Antwort ist, gibt es einen simplen Ansatz auf die Frage, warum der Whib von früher klarer erscheint als der Whib von heute: Er hat seinen Kontext, hat eine Geschichte, eine, die auf etwas hinausläuft. Wäre sein Leben ein Film, könnte man sie von der Kindheit bis zum Erwachsensein als klassische, auch klischeehafte Aufsteigergeschichte dramatisieren. Der Whib von heute lebt in einem verworrenen, vertrackten Gebilde, in einem unsicheren Zustand; wie es einmal ausgehen wird, weiß niemand. Seine Sorgen der Gegenwart sind alle existentiell. Whib sagte mir einmal, dass er seit Beginn des Krieges und dem brüchigen Frieden, den der Krieg brachte, viel mehr bete. „Wenn du keine Lösung hast, kannst du ja nur beten.“
Whib, ist es eigentlich auch gefährlich, im Land unterwegs zu sein? Wie war das auf deiner Arbeitsreise?
„An der Grenze zum Sudan könnte es kompliziert werden, aber in die Gebiete, in denen ich Schwierigkeiten bekommen könnte, bin ich nicht gereist.“
Hast du mit den Menschen, die du trafst, über Politik gesprochen?
„Nein, das sind nur kurze Begegnungen. Ich treffe fremde Leute, mit denen rede ich in der Regel nicht über Politik.“
Dann hattest du während der Arbeitsreise auch ein bisschen Abstand von der politischen Situation?
„Ja, unterwegs waren mir die Themen nicht so präsent. Am Abend informierst du dich, aber tagsüber liegt der Fokus auf was Anderem.“
Das klingt ein bisschen wie Urlaub.
Whib lacht. „Ja, ich habe mich auch erholt.“
Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.