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Whib’s Story – Folge 6: 48 Stunden

7. November 2024

7 Minuten Lesedauer

Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden.

Dies ist Folge 6 der zwölfteiligen Serie.

Als Whib und ich uns nach einer ungewöhnlich langen Pause wieder hören, fragt er mich, was ich in den vergangenen Wochen gemacht habe. So kommt es, dass ich ihm vom Sterben und vom Tod erzähle. Ich arbeite seit mehreren Jahren an einem Projekt, bei dem es um diese Themen geht, weil ich finde, dass wir der Tatsache, dass wir alle sterben werden, lange auszuweichen versuchen. Manchmal so lange, bis es nicht mehr geht. Dann ist der Tod auf einmal da und wir tun, als hätten wir von nichts gewusst. Whib und ich haben durch den Krieg und seine Familie schon viel über den Tod geredet; aber wie ist es eigentlich gesellschaftlich in Äthiopien? Whib, redet ihr über den Tod?

„Nein, Priester sagen zwar, dass man jederzeit bereit sein soll, aber man redet da nicht drüber. Die Leute denken, wenn man über den Tod spricht, ruft man ihn hervor.“

Bei mir ist es genau andersherum. Ich finde es gut, über den Tod zu reden, weil dies so viel Leben bringt. Viele Menschen denken, dass sie für immer leben. Und wenn sie begreifen, dass das nicht so ist, fangen sie vielleicht ein anderes Leben an: bewusster, intensiver, fokussierter, entschiedener. Was hätten wir wohl für eine Welt, wenn wir alle mehr im Bewusstsein unseres eigenen Todes leben würden, Whib? 

„Was hätten wir für eine Welt, wenn wir wüssten an welchem Tag, zu welcher Uhrzeit wir sterben würden? Wie wäre es dann? Wenn du weißt, dass du in zwei Tagen stirbst, verändert das doch alles.“

Was würdest du denn in deinen letzten 48 Stunden machen? 

Whib lacht auf. „Ich habe nie darüber nachgedacht“, sagt er, und formuliert dann ohne Pause folgende Handlungsschritte: „Ich muss mich um meine Kinder kümmern: Ihnen Dinge sagen, die ich bislang nicht sagte. Ich leite sie ja durchs Leben, aber wenn ich auf einmal nicht mehr da bin, muss ich ihnen mitgeben, was ich mir noch aufhob; muss ihnen sagen, wie sie ohne mich auf dem Weg bleiben und durchs Leben kommen. Dann muss ich das Finanzielle klären; ihnen sagen, was sie tun, wenn sie Schulden haben. Danach bleibt nur noch beten. Nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie, meine Kinder. Und meinem ältesten Sohn muss ich sagen, dass er sich nun, wo ich nicht mehr da bin, um seine Geschwister kümmern soll. An meiner statt. Jetzt ist er in der Verantwortung, muss seine Geschwister beschützen, seine Mutter unterstützen und immer viel Wert auf Bildung legen. So wie es ihm sein Vater zeigte.“

Wir schweigen einen Moment. So konkret ausgesprochen wirkt die To-Do-Liste fast real: Als seien in Whibs Leben wirklich nur noch 48 Stunden übrig. In die Stille sage ich: Zum Glück musst du all das gerade nicht machen. Wir lachen.

Also zurück ins Leben. Lass uns über Menschen sprechen, sage ich, die die Wasserprojekte unterstützen und nach Äthiopien kommen, um sie sich anzusehen.

In einem unserer letzter Gespräche hatte Whib kurz einen Amerikaner erwähnt, der nach dem Besuch von mehreren Gemeinden Tigrays zu weinen begonnen hatte. Warum seid ihr nur so arm?, hatte er ausgerufen. Ich hatte noch lange nach dem Gespräch mit Whib über diese Szene nachgedacht und sie mir versucht in ihrer Ganzheitlichkeit auszumalen. Das Setting, in der sie stattfand, die handelnden Personen in den Haupt- und Nebenrollen. Ich hatte die Szene betrachtet, als liefe sie vor mir auf dem Screen, und immer und immer wieder musste ich auf Repeat drücken, weil ich mit einem Mal nicht aufnehmen konnte, was alles in diesem einen Augenblick geschah, der zeitlich gesehen ja nicht lange gedauert haben wird. Ich drückte auf Repeat, weil ich aufnehmen musste, was in den wenigen Worte steckte. Warum seid ihr nur so arm? War das ein impulsiver Schock, sich abrupt auftuende Hilflosigkeit, plötzlich einsetzende Trauer? War das Scham? Scham auch darüber, zu den vermeintlich Reicheren zu gehören; Scham, so lange nicht hingeschaut zu haben; Scham, vor einen dicken Pfeiler gelaufen zu sein und nicht mit einem blauen Auge davon zu kommen? Warum seid ihr nur so arm? Wer sollte eigentlich darauf antworten? Und wie? Wer sollte rechtfertigen, begründen, warum die Welt so ungleich verteilt ist. Warum seid ihr nur so arm? Sollte jemand diese Trauer trösten?

Whibs (2. v. r. stehend) in seiner vorherigen Anstellung mit einer Gruppe US-amerikanischer Unterstützer*innen.

In seinem Berufsleben hat Whib regelmäßig Besuch aus dem Ausland empfangen. Meist waren es Menschen, die bereits für Wasserprojekte gespendet hatten und dann vor Ort sahen, wie die Gelder genutzt worden waren. Vor dem Krieg, der 2020 begann, reiste auch regelmäßig einmal im Jahr eine Delegation an Unterstützern und Unterstützerinnen der well:fair foundation nach Äthiopien; Whib lernte einige von ihnen kennen. Und als er noch bei der äthiopischen Organisation Rest arbeitete, traf er einmal den Schauspieler Matt Damon; ein anderes Mal begleitete er Will Smith zu den Gemeinden. Die Menschen dort hatten von dem Schauspieler noch nie etwas gehört und dennoch begrüßten sie ihn überschwänglich – nicht, weil es Will Smith war, sondern weil alle, die von weit her kommen, so begrüßt werden, mit Respekt und Freude. Wenn man keinen engen Zeitplan hätte, dann würde so eine Begrüßungszeremonie laut Whib mehrere Stunden dauern, er versucht es meist auf drei Tänze zu begrenzen.

Whib (1. v. r. ) mit Schauspieler Will Smith und Schauspielerin und Ehefrau Jada Pinkett Smith.

Whib, passiert es öfter, dass Menschen, die die Gemeinden besuchen, weinen müssen?

„Ja, es gibt immer wieder Menschen, die zu weinen beginnen. Ich denke, sie weinen, weil sie so bewegt von den Problemen sind: dass die Menschen kein Wasser haben. Weil sie in dem Moment wirklich verstehen, was es bedeutet, dies nicht zu haben.“

Was machst du, wenn du bei jemandem Tränen siehst?

„Ich versuche, die Dinge zu erklären. Ich sage: Du bist hier, weil du schon etwas gibst, finanziell oder ideell, weil du deine Erfahrungen, die du hier machst, teilst. Du bist hier, um etwas zu tun, daher gibt es keinen Grund zu weinen. Du leistest schon einen Beitrag.“

Die Gäste weinen wegen der Lebensbedingungen der Menschen in deinem Land und du gibst eine Art von Trost. Fühlt sich das nicht absurd an?

„Wenn Menschen weinen, weil andere unter schwierigen Bedingungen leben, denke ich, dass die Welt doch viel Menschlichkeit hat. Das ist genau das, was ich von denen, die zu Besuch kommen, immer weder lerne: Menschlichkeit. Und wie Menschlichkeit aus unterschiedlichen Ecken der Welt aussieht. Die Menschen in den Gemeinden können ja oft gar nicht glauben, dass da jemand kommt und sie unterstützt Wasser zu bekommen, den sie gar nicht kennen. Das ist für viele zunächst einmal überraschend.“

Und worüber sind die Menschen, die kommen, überrascht?

„Für die Gäste ist es ungewöhnlich zu sehen, dass ein Kind aus einem verunreinigten Fluss trinkt. Für mich, der hier aufgewachsen ist, ist das ganz normal. Wenn ich ein Kind trinkend im schmutzigen Wasser sehe, dann schockt mich das nicht, das wundert mich nicht. Als alleinigen Gedanken habe ich dann den, dass wir noch härter arbeiten müssen, um das Wasserproblem zu lösen und die Zustände zu verbessern. Einige Gäste aber glauben, dass das nicht real sein kann: Ein Kind, das dieses Wasser trinkt. Als ich einmal mit einigen unterwegs war und wir im Vorbeifahren ein Kind im Fluss sahen, fragte mich ein Mann: Trinkt der Junge wirklich aus diesem Fluss? Oder will er nur angeben? Er sagte wirklich: Will er angeben? Nein, sagte ich, es ist die einzige Art, die er kennt, um zu trinken. Er hat sich nicht für dich hier hingestellt, er hat Durst.“

Szene einer Willkommens-Zeremonie für Gäste in einer Gemeinde in Tigray, Äthiopien.

Welche Bilder haben wir von dem, was wir nicht kennen? Welche lassen wir zu, welche ergänzen wir in ein Bild, das wir schon haben, so dass es nicht starr ist, sondern ein Bewegtbild wird? Was ist Äthiopien, Afrika für uns? Ist es einfach arm? Ein Fleck Erde mit vielen Tieren und gut geeignet für Safari? Gewaltige Natur? Und politisch alles irgendwie instabil? Wahrscheinlich ist nichts von diesen hier in westlichen Ländern gängigen Stereotypen gänzlich falsch, aber natürlich ist auch nichts von all dem in Absolutheit richtig. Es gibt andere Bilder, die ergänzen, erweitern; die das Bild differenzierter machen, komplexer, nicht immer einfacher, manchmal aber schöner. Ich muss an Neven denken, den Gründer der well:fair foundation, mit dem ich für das Buch „Alles Geben“ vor drei Jahren ausführliche Gespräche führte. Er erzählte mir voller Überschwang von der Art und Weise, wie er in äthiopischen Gemeinden empfangen wird: von der unbändigen Freude, von der Musik, den gemeinsamen Tänzen. Den Überschwang vermochte er nicht in Worte zu fassen, vor allem erzählte er von ihm in den Pausen, in denen er nach den richtigen Worten suchte, vor allem erzählte er von ihm mit seinen Augen.

Whib, wenn du Menschen aus dem Ausland bei dir zu Hause empfängst, wird dann eigentlich auch getanzt?

Whib lacht. „Nein, dann mache ich eine Kaffeezeremonie, die gesamte Familie wird vorgestellt, und dann reden wir. Wenn du mal zu mir kommst, wirst du den besten Kaffee trinken.“

Ich freu mich schon.

„Kommst du wirklich mal?“

Ich hoffe. Aber dann musst du noch mehr als 48 Stunden leben. Dann komme ich vorbei.

„Ich werde um Verlängerung bitten: statt 48 Stunden möchte ich noch 48 Jahre.“

Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.