Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden.
Dies ist Folge 4 der zwölfteiligen Serie. Wir möchten darauf hinweisen, dass im folgenden Text von Gewalt und Tod geschrieben wird.
Unsere Gespräche haben meist die gleiche Anfangschronologie: Whib kommt in den Videochat, für den ich ihm den Link schickte. Er erscheint dann einfach und sagt nie als erster etwas. Also rufe ich, sobald ich ihm am immergleichen Platz vor den Lamellen im schwachen Licht sitzen sehe: Whib! Da bist du! Dann sagt er mit sanfter Stimme: „Sonja, wie geht’s dir?“ Ich gestehe, ich bin kein Wie-gehts-dir-Mensch; keiner, der auf diese Frage eine schnelle Antwort hat, mit der er zufrieden ist; das hat mehrere Gründe, die hier jetzt zu weit führen. Was Whib betrifft, kam mir mal in den Sinn, mir vorher eine Antwort auszudenken, allerdings fällt mir das immer erst ein, wenn ich sage: Whib! Da bist du! Dann weiß ich, dass er gleich sagen wird: „Wie geht’s dir?“ – und ich keine Antwort parat habe. Einmal kam es auf Wie geht’s dir? dazu, dass ich von einem Fahrradunfall erzählte, den ich hatte und den Whib auf eine Weise live mitbekam, da ich ihm absagen musste, während ich im Wartezimmer des Arztes auf das Röntgen meiner Schulter wartete. Whib erkundigte sich die Wochen darauf immer nochmal nach meiner Schulter, und in mir kam das Gefühl auf, ich müsste die Folgen des Sturzes dramatischer machen, als sie waren: Warum? Weil er mir von der Schwere in seinem Leben erzählt hatte?
Wenn ich Whib im Anschluss frage, wie es ihm geht, sagt er gewöhnlich: „Normal.“ Und dann sagt er: „Fangen wir an.“ Für mich ist das der Moment, ein Thema zu setzen. Einmal sagte ich zu ihm: Lass uns über deine Mutter reden. Sie kam schon so oft vor, aber nur am Rand. Heute soll sie die Hauptperson sein. Bist du ihr erstes Kind, Whib?
„Sie bekam eines vor mir, es starb sofort. Ich bin ihr zweites Kind. Nach mir bekam sie noch sieben Kinder.“
Weißt du etwas über den Tag deiner Geburt?
Whib überlegt kurz, dann sagt er, als wäre er selbst überrascht: „Ich weiß wirklich nichts, nein, gar nichts. Ich habe nie etwas dazu erfahren. Sie sagte nichts. Und ich fragte nicht. Das einzige, was meine Mutter immer sagte, war, wieviel Liebe sie für jedes Kind spüre. Wenn sie Zeit hat, werde ich sie fragen. Warum habe ich sie das noch nie gefragt?“
Als du ein Kind warst, war es deine Aufgabe die Tiere zu hüten, und die Aufgabe deiner Mutter war es, Wasser für die Familie zu holen?
„Ja, jede Mutter hatte diese Aufgabe.“
Wieviel Wasser musste sie holen?
„Ich glaube, es waren zwei Kanister, 40 Liter pro Tag. Das brauchte sie, um Kleidung zu waschen, Essen zuzubereiten.“
Wie also sah ihr Tag aus?
„Sie stand sehr früh am Morgen auf, ein oder zwei Stunden vor dem Rest der Familie, dann bereitete sie unser Frühstück vor. Und am Abend ging sie ein oder zwei Stunden nach uns schlafen. Das normale Leben einer Mutter.“
Wieviel Zeit blieb ihr zu schlafen?
„Vielleicht vier oder fünf Stunden. Und die Zeit, die sie wach war, verlangte viel Energie von ihr. Wasser holen, Essen zubereiten, Getreide mahlen, und dann war sie ja auch auf dem Feld, jätete Unkraut, und bei der Ernte war sie auch dabei. Inzwischen ist das Leben für Frauen einfacher geworden. Es gibt Getreidemühlen, die mit Dieselmotoren arbeiten. Das Getreide wird zum Mahlen einfach dort hingebracht und das Mehl mit nach Hause genommen. Als wir während des Krieges keinen Strom hatten, konnten die Mühlen nicht arbeiten. Und die Mütter bereiteten das Getreide wie früher vor: Sie rieben es über einen Stein, um Mehl zu bekommen. Es ist eine so aufwändige und anstrengende Arbeit, meine Mutter machte sie früher stundenlang.“
Äußerte sie mal, dass sie unzufrieden war?
„Nein, sie beschwerte sich nie. Es war ihre Verantwortung. So sah sie das.“
War sie glücklich?
„Das glaube ich nicht.“
Warum?
„Weil sie sich hat scheiden lassen müssen, von meinem Vater. Bis heute denkt sie daran. Sie sagt, dass sie sich in jungen Jahren immer gewünscht habe, einen Mann und Kinder zu haben. Eine Familie. Aber es kam anders.“
Die Geschichte, die Whib dann über seine Eltern erzählt, ist die einer, so könnte man es nüchtern formulieren, durch äußere Umstände verhinderten Liebe. Whibs Vater war in die Stadt Adwa gezogen, weil er, wie Whib sagt, ein Bewusstsein für Bildung hatte. Er hatte dies von seinem Vater erfahren, der Land besaß und Geld mit administrativen Aufgaben verdiente, er besuchte Städte und muss sich nebenbei, ohne einen Schulbesuch, das Schreiben beigebracht haben. Whibs Familie wurde enteignet, als Mengistu Haile Mariam in den Siebzigern an die Macht kam und mit seinem diktatorischen Regime versuchte, aus Äthiopien einen sozialistischen Staat zu machen. Der Vater hatte nun kein Land mehr, aber ohnehin, sagt Whib, sei er nicht bereit gewesen, ein einfacher Bauer zu sein. Als er die Familie verließ, hatte er die Vorhaben, seine Bildung voranzutreiben, seine Familie zu unterstützen und sie nach einiger Zeit nachzuholen, die Kinder und seine Frau.
Whibs Mutter wusste nichts vom Leben in der Stadt. Alles, was sie über das Leben in der Stadt, hörte, war: Man braucht Geld. Geld für Essen, Geld für Feuerholz, Geld für Wasser. Die Leute begannen zu reden: Wie kann ein Mann für Feuerholz bezahlen? Hier bei uns gibt es das doch umsonst. Ein jeder dachte: Das Leben in der Stadt muss schwer sein. Auch ihre Eltern sagten: Geh nicht in die Stadt. Einen Tag lang hätte sie gebraucht, um dahin zu gelangen, zu Fuß, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Zudem war Krieg. Das Gebiet, in dem Whib mit seiner Mutter wohnte, war von Guerilla-Kämpfern kontrolliert, die Stadt von der Regierung. Auch das machte ein Treffen schwer: Man konnte schnell für einen Spion gehalten werden; man hörte von Leuten, die wegen eines Verdachts erschossen wurden. Neben diesen politischen Umständen gab es dann noch private; Abhängigkeiten von anderen, die die Beziehung der beiden beschwerten. Um niemanden zu verletzen, möchte Whib diese Dinge nicht veröffentlicht wissen. Aus dem Konglomerat äußerer Umstände entschied man sich dann für die Scheidung. Die unpersönliche Formulierung des man ist eine bewusste, denn nach Whibs Erzählungen wirkt die Entscheidung nicht nach einer gänzlichen Überzeugung zweier einzelner Personen.
„Meine Mutter jedenfalls machte die Scheidung sehr unglücklich“, wiederholt Whib.
Ist das noch heute ihre Perspektive?
„Jedes Mal, wenn wir zusammensitzen, erzählt sie mir das.“
Und dein Vater?
„Er war in die Stadt gegangen, um ein besseres Leben zu haben. Er hatte gewollt, dass seine Frau zu ihm kommt, er wartete auf sie. Es stand nicht in seiner Macht, etwas zu ändern. Auch sein Herz zerbrach durch die Scheidung. Er liebte sie sehr. Sie kommen beide aus derselben Gegend. Zu der Zeit, als sie zusammen kamen, war es nicht üblich, dass man einen Freund hatte, den man dann heiratete. Mein Vater musste ihre Eltern fragen, ob er sie heiraten dürfe. Als sie sich verlobten, war meine Mutter vielleicht fünfzehn Jahre alt und mein Vater zehn Jahre älter, sie fühlten sich sehr wohl miteinander.“
Was ist mit deinen Gefühlen, Whib? Wie geht es dir mit der Geschichte deiner Eltern?
„Auch mich macht sie traurig. Meine Mutter lebte irgendwann mit einem anderen Mann zusammen; er brachte zwei Kinder mit, und dann war da noch mein jüngerer Bruder. Ich war etwas sechs, als ich von meiner Mutter zu meinen Großeltern zog. Später ging ich zu meinem Vater in die Stadt. Als ich ein Kind war, verstand ich das ganze Bild nicht. Wenn ich jetzt daran denke, werde ich sehr traurig.“
Sind deine Eltern noch in Kontakt?
„Ja, manchmal sehen sie sich in meinem Haus. Sie diskutieren immer: Du hast das gemacht, du das. Sie diskutieren, und ich weiß, dass sie immer noch traurig sind. Sie fragt mich nach seinem Leben, er fragt mich nach ihrem Leben.“
Wie geht es deiner Mutter jetzt, nachdem sie vor Kurzem erfahren hat, dass ihr Sohn und ihr Enkel im Krieg gestorben sind?
„Ich habe sie letzte Woche nicht getroffen, aber ich denke, sie ist okay. Aber wenn ich sage, sie ist okay, dann hat sie trotzdem ihren Sohn und ihren Enkel verloren. Sie ist okay…“
…aber eigentlich heißt es, dass sie nicht okay ist?
„Also…sie liegt nicht im Bett. Sie ist nicht krank. Sie ist okay.“
Ich muss daran denken, wie ich vor einiger Zeit auf eine von Whibs anfänglichen Wie-gehts-dir-Fragen von den Erkältungskrankheiten meines Sohnes sprach. Ich war, klassisches Elternthema, erschöpft von der unaufhörlichen Aneinanderreihung fieser Winterviren, die uns beständig lahmlegten. Ich hatte meine Antwort gerade ausgesprochen, da wurde sie mir unangenehm und ich wollte alles tun, um meine dahingeworfene Alltäglichkeit zurückzunehmen: So schlimm war das ja alles gar nicht, wollte ich rufen, streichen wir das. Whib aber fragte besorgt nach, und ich dachte wieder daran, das Fieber höher zu machen als es war, und sah uns bildlich schon in die Notaufnahme eilen, Blaulicht, Tatütata. Aber wir hatten ja nur Schniefnasen und etwas Halsweh. Dann stoppte ich meinen zweifelhaften inneren Drang, mithalten zu müssen und die Dinge dramatischer zu machen als sie waren. Ich sagte zu Whib etwas, das mich eine Stunde zuvor wirklich gefreut hatte, auch wenn ich wiederum Sorge hatte, es könnte banal klingen. Eben, sagte ich, sah ich die ersten Blumen aufgehen. Da ist also Hoffnung. Whib nickte. Und dann sagte er: „Fangen wir an.“
Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.