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Whib’s Story – Folge 5: Die Heldenfrage

7. November 2024

7 Minuten Lesedauer

Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden.

Dies ist Folge 5 der zwölfteiligen Serie.

Als ich Whib zum ersten Mal sprach, hatte ich ihm gesagt, dass ich nicht viel von ihm wüsste, nur dass er ein Held sei. Und Whib hatte korrigiert: kein Held, sondern ein professioneller Angestellter. In wenigen Sätzen hatte er seine berufliche Laufbahn zusammengefasst; und dies wirkte tatsächlich nicht, als würde er eine neue Weltformel entwickeln, sondern eher aus einem tabellarischen Lebenslauf zitieren. War er nun ein Held, oder nicht? Was macht ihn aus, einen Helden? Wird man dazu geboren, wer entscheidet darüber? 

Whib hatte als Kind keine großen Vorstellungen von seinem Leben, außer dass es eben so verlaufen würde, wie all die Leben der anderen, die er kannte. Als er zwölf war, wurde dann eine Entscheidung getroffen, die seiner einzigen Vorstellung von Zukunft zugegenlief: Zusammen mit seinem jüngeren Bruder zog er in die Stadt Adwa. Sie wohnten bei ihrem Vater und dessen zweiter Frau. Die Brüder sollten zur Schule gehen. In den Wochen, bevor es losging, bereitete der Vater sie darauf vor, brachte ihnen Buchstaben bei, lehrte sie, die ersten Wörter zu schreiben. Du wirst Arzt, hörte Whib seinen Vater sagen. Und als Whib in der darauffolgenden Zeit wirklich immer wieder gute Noten nach Hause brachte, hörte er: Du wirst ein guter Arzt. Nach seinem Schulabschluss aber waren es dann zu viele seines Jahrgangs, die Medizin studieren wollten, nicht alle konnten einen Platz bekommen. Die Auswahlkriterien wurden verändert und Whib begann, sich über andere Fächer zu informieren: Wenn man Geologie studierte, bekäme man ein Stipendium und im Anschluss des Studiums gar einen Job! So kam es, dass Whib Geologe wurde.

Bislang hatte er von Geologie nur eine diffuse Ahnung gehabt. Als er in der neunten Klasse als Schüler für herausragende Leistungen ausgezeichnet wurde, hatte er ein Buch bekommen, groß und schwer, in dem es um Geologie ging. Das war schon alles, auf das er zurückgriff. 

Whib, war es besser Geologe zu werden statt Arzt? 

„Zumindest mochte ich es, nachdem ich es gewählt hatte. Und ja, du kannst sehr glücklich werden, wenn du die kritischen Wasserverhältnisse auf dem Land verändern kannst. Ein Arzt hingegen ist vielleicht glücklich, wenn er Verletzungen sieht, die er operieren kann; wenn er Leben rettet.“

Das machst du in gewisser Hinsicht als Hydrogeologe ja auch: Leben retten. 

„Es wäre aber falsch zu sagen, dass ich Geologe wurde, um Leben zu retten. Ich hätte als Geologe auch in den Straßenbau gehen können, oder ins Bergwerk. Das mit dem Wasser ist dann einfach so gekommen.“ 

Es ist wirklich nicht leicht, Whib zu einem Helden zu machen. Auf übergeordnete Zuweisungen widerspricht er mit nüchternen, sachlichen Argumenten. 

Den ersten Job nach seinem Studium bekam Whib in einer Regierungsorganisation, er war verantwortlich für die Supervision des Brunnenbaus. Nach zweieinhalb Jahren wechselte er zur Nichtregierungsorganisation Rest, dem äthiopischen Partner der well:fair foundation. Whib besuchte Gemeinden, sprach mit den Menschen und hörte den Leben zu, die so ähnlich verliefen, wie auch seines hätte verlaufen können, wäre er nicht in die Stadt gegangen.

Mitglieder eines WASH-Committees in Tigray, Äthiopien.

In Whibs Kindheit hatte seine Mutter, wie alle anderen Frauen auch, das Wasser geholt. Zu Hause wurde es dann benutzt, um zu kochen, Kaffee zuzubereiten und Geschirr zu waschen; auch einige Hühner und Lämmer bekamen etwas ab. Schmutzige Kleidung wurde gewöhnlich im Fluss gereinigt. Auch zum Baden ging Whib dorthin, in der Regenzeit zu einem nahegelegenen Fluss; in der Trockenzeit, wenn die Flüsse Monat für Monat weniger Wasser führten, wurden die Wege länger. Dann lief er eine Stunde, um ans Wasser zu gelangen. Nahm er die Tiere mit, brauchte er mehr Zeit. Menschen aus unterschiedlichen Gegenden trafen sich an der Wasserstelle; Ochsen, die hergeführt wurden, begannen zu kämpfen; die Leute riefen: Mein Bulle ist stärker, – Nein, meiner! Für die, die nicht um ihren Ochsen fürchten mussten, war es ein Spektakel zuzuschauen. Während die Tiere im Wasser standen und tranken, wurde etwas weiter stromaufwärts die Kleidung gewaschen und auf Steine zum Trocknen gelegt; um zu baden, ging man noch etwas weiter. 

 

Whib machte sich in dieser Zeit nie Gedanken darüber, ob die Qualität des Wassers nicht gut sein könnte. Er trank das Wasser, das sich nach einem Regen auf den Feldern gesammelt hatte, und nach seinem Umzug in die Stadt trank er verunreinigteres Wasser als auf dem Land. Es war, wie er sich erinnert, stark verschmutzt und stank fürchterlich. Erst als er zur Universität ging, sah Whib, dass Wasser auch ganz klar sein kann. Er fragte sich, ob Tage, an denen er unter Bauchkrämpfen gelitten hatte, mit getrunkenem Wasser zu tun gehabt haben können. Als Whib in seinem ersten Job war, kamen Gäste aus westlichen Ländern, die sich weigerten, sein Wasser zu trinken; das irritierte ihn. Er begann zu realisieren, welche unterschiedlichen Wasserzugänge es auf der Welt gibt; begann zu realisieren, zu welchen Ungerechtigkeiten dies führt: das Risiko zu erkranken; die Zeit und Kraft, die ins Wasserholen investiert wird; die Bildung, die auf der Strecke bleibt, wenn es nur um das Sichern des Überlebens geht. Begann zu realisieren, dass anderswo das Wasser einfach kommt, wenn man einen Hahn aufdreht. Heute, da er das in seinem Haus auch so macht, dreht er den Hahn immer schnell wieder zu, nutzt das Wasser in so sparsamer Menge, so dass sich seine Frau über ihn lustig macht: Wir haben doch genug! Wie kann das denn zum Händewaschen reichen? Und er sagt dann zu ihr: Warum verschwendest du nur so viel?

Vergleich von verunreinigtem und sauberem Wasser.

Bei der NGO Rest gehörte es zu Whibs Aufgaben, Orte zu finden, die sich aufgrund ihres Grundwasseraufkommens zum Brunnenbau eignen. Er besuchte Gemeinden, redete mit Vertretern und Vertreterinnen und versuchte ein Bild davon zu bekommen, was die Menschen davon halten, wenn an einer bestimmten Stelle ein Brunnen gebaut wird: Gab es Unstimmigkeiten? War der Brunnen nah genug, sodass die Leute ihn auch nutzen würden? Wenn alle einverstanden waren, begannen die Bohrarbeiten. Bei well:fair ist Whib nun verantwortlich für das Monitoring der bestehenden Anlagen. 

Whib, du verbesserst mit deiner Arbeit die existentiellen Lebensbedingungen anderer. Das kann man schon als eine Heldentat bezeichnen. 

„Ich wuchs in einer ländlichen Gemeinde auf, ich kenne die Herausforderungen der Menschen und als ein Mensch, der Verantwortung fühlt, gehe ich dieser einfach nach. So viel wie möglich versuche ich dabei mit den Leuten zu kooperieren. Vor allem mit Benachteiligten und Armen. Ich kümmere mich nicht um meine persönlichen Belange. Wenn ich in die Gemeinden fahre, möchte ich die Menschen verstehen, sie respektieren, das ist meine tägliche Arbeit. Das kann man als etwas Gutes wahrnehmen, aber für mich ist das, was ich tue, einfach normal. Ich bin nunmal jemand, der nah an den Menschen dran ist, der sie versteht.“

Hast du jemals darüber nachgedacht, für ein Unternehmen zu arbeiten, nicht für eine NGO?

„Das kam mir immer mal wieder in den Kopf und ich habe versucht, es mir selbst zu beantworten. Ehrlich gesagt ist es aber so: Als Mitarbeiter von well:fair bekomme ich besseres Geld als bei anderen Unternehmen. Wenn ich aber woanders besseres Geld kriegen würde, was wäre dann meine Entscheidung? Ich glaube nicht, dass ich allein aufgrund von Geld wechseln würde. Das, was ich tue, tue ich aufgrund von Beziehung und dem Vertrauen, das besteht. Beziehung und Vertrauen führen zu einer Verantwortung. Und in dem Sinn ist mein Job mehr als ein Job. Sobald die Menschen wissen, dass du in der Wasserindustrie arbeitest, kommen sie zu dir, beschreiben dir ihr Leben und ihre Probleme. Sie bitten dich, sie zu lösen, für ihre Gemeinde und die Nachbargemeinden. So wird es zur Pflicht, die Leute zu unterstützen.“

Das, was ich tue, tue ich aufgrund von Beziehung und dem Vertrauen, das besteht. Beziehung und Vertrauen führen zu einer Verantwortung. “

Wie ist die Wassersituation heute in Hagua, wo du aufgewachsen bist? 

„Seit sechs Jahren gibt es dort an der Quelle, an der sich die Menschen in meiner Kindheit um das wenige Wasser stritten, eine Handpumpe. Ich war nicht verantwortlich für den Bau, aber ich brachte die Leute zusammen, sodass dort gebohrt werden konnte.“

Da musst du aber nun ein Held sein!, fordere ich Whib lachend heraus.  

Und Whib antwortet wie ich es von ihm kenne, wenn es um ihn geht, in bescheidener Sachlichkeit: „Es gab keine Feier nach den Bauarbeiten, aber die Menschen waren schon sehr dankbar.“

Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.