Stories

Whib’s Story – Folge 11: Trauern

8. Mai 2025

4 Minuten Lesedauer

Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden. Dies ist Folge 11 der zwölfteiligen Serie.

Letztens hat mir Whib was über Beerdigungen erzählt. Es sollte nur eine Beiläufigkeit sein. Er erwähnte sie, um zu sagen, dass er nach dem Wochenende etwas müde gewesen sei. Ganz in der Früh war er mit einigen seiner Verwandten von Meke’le nach Hagua gefahren und spät abends nach Hause gekommen, der Grund seiner Reise war eine Bestattungszeremonie. Einer der Ältesten war gestorben, ein Nachbar seiner Oma, Whib kannte ihn sein ganzes Leben lang. Der Mann war alt, um die neunzig. Es war, so weit man das über das Zuende gehen eines Lebens sagen kann, ein gutes Ende, keines mit langer Krankheit, langer Qual. Der Mann hatte zuletzt einige Zeit bei seiner Tochter in der Stadt gewohnt und war dann zur Erntezeit ins Dorf gefahren. Dort wurde er krank und eine Woche später starb er. Whib nahm diesen Tod nicht sonderlich schmerzhaft. Es war traurig, ja, sagte er, aber er sei auch froh, dass der Tod des Mannes niemandem eine Bürde gebracht habe: kein jahrelanges im Bett liegen, keine Geldprobleme. Whib erzählte mir vor allem von der Gemeinschaft, die nach einem Tod tagelang zusammenkommt. Ich habe schon oft gedacht, dass es ja keine überraschende Sache ist, dass alles, was lebt, irgendwann sterben wird, unser Umgang hierzulande damit wirkt aber oft so. Vieles, was mit dem Tod zu tun hat, passiert verhuscht, ganz schnell, nicht durchdacht, als hätte ja keiner damit gerechnet, dass der Tod auf einmal um die Ecke kommt; und war er einmal da, geht vieles schnell wieder weiter. Urlaub beim Tod eines nahen Angehörigen: zwei oder drei Tage. Und dann? Über die Art, wie wir trauern und eine Beerdigung feiern, lässt sich viel über eine Gesellschaft verstehen.

Daher wurde aus Whibs Beiläufigkeit ein tiefes Gespräch über die Tradition des Beerdigungsfeierns. Bei der Bestattung des Mannes, bei dem Whib war, nahmen um die tausend Leute an der Zeremonie in der Kirche teil, es wurde aus der Bibel vorgelesen, gebetet, und nachdem der tote Körper beerdigt wurde, bildete sich eine Kondolenzschlange, und ein Dorf nach dem nächsten sei zur Familie gekommen. Die engeren Verwandten, um die zweihundert, so schätzt Whib, gingen danach zu der Familie nach Hause, die Nachbarn sorgten für Essen und Getränke. In Whibs Erzählung geht es vor allem um eins: eine Gemeinschaft, die zusammensitzt – die hilft, hält – und wieder neue Herausforderungen mit sich bringt.

Er erzählt: 

„Wir gingen in das Haus der Familie, um sie zu unterhalten, um sie vom Weinen abzuhalten. Es wird an sich viel geweint bei diesen Ereignissen – und die vielen Leute, die da sind, versuchen, die Familie davon abzuhalten. Es gibt kein bestimmtes Programm. Im Lauf einer Woche kommen immer mal wieder Leute, andere gehen wieder, es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Es geht einfach viel ums Zusammensein. Und das nicht nur an einem Ort. Wenn ein naher Verwandter stirbt, dann kommen die Leute nicht nur zu dem Haus, in dem der Verstorbene lebte, sondern auch zu den Häusern der nahen Verwandten, selbst wenn die mehrere Kilometer entfernt und in Städten wohnen. Wenn mein Vater sterben würde, dann würden Leute zu seinem Haus kommen und auch zu meinem. Ich müsste also in meinem Haus sein, weil ich dort Gäste habe. Und meine Schwester hätte auch Gäste bei sich. Da ich in der Stadt wohne und arbeiten muss, würden die Leute vielleicht  erst abends kommen oder am Wochenende. In der Stadt ist es anders als auf dem Land. In der Stadt müssen viele auch nach drei oder fünf Tagen arbeiten. Auf dem Land nehmen sich die Leute mehr Zeit nach dem Tod, da folgen sie keinem Gesetz, sondern allein der Tradition. Was auch immer sie tun: sie unterbrechen es. Für eine Woche oder zehn Tage kommen in deinem Haus immer mal wieder Leute vorbei, für einige Stunden oder für einige Tage. Einige kommen drei Mal in der Woche. Die Nachbarn sind die, die am meisten da sind. Alle sitzen zusammen, essen und trinken. Am 13. und 40. Tag nach dem Tod gibt es Gebete in der Kirche. Aber das eigentliche Fest findet ein Jahr nach dem Tod eines Menschen statt. 

Es ist feierlicher und größer als eine Hochzeit. Dann wird gefeiert, dass der Mensch in den Himmel eintritt. Die Leute glauben, dass der Geist des Toten dies von den Lebenden erwartet. Macht man es nicht, ist der Geist unglücklich. Daher ist dieses Fest vielen besonders wichtig: Es gibt viel zu trinken, auch Alkohol, und viele Ochsen werden geschlachtet. Anders als bei Hochzeiten wird allerdings nicht getanzt. Es gibt einige Leute in der Stadt, die diese Feier schlecht reden, die nicht verstehen, warum die armen Leute auf dem Land so viel Geld für diese Erinnerungsfeier ausgeben, aber sie ist den Menschen wichtig. Würden sie es nicht tun, würde es heißen, sie vergessen ihre Toten. Es liegt also viel Bedeutung auf dieser Feier, und die Leute vergleichen sich miteinander – es wird darüber geredet, wer welche Feier für wen ausgerichtet hat. Und es ist für die Menschen auch wichtig, dass die anderen da sind. Darüber wird geredet: War er oder sie da? Hast du ihn bei der Zeremonie gesehen? Und wenn nicht, warum nicht? Haben sie keine gute Beziehung mehr? Es zählt auch, was die Leute sich gegenseitig schenken. Das ist ähnlich wie bei einer Hochzeit. Bei einer Hochzeit wird Geld geschenkt – und der genaue Betrag wird sich gemerkt. So dass man dasselbe zurückzahlt, wenn jemand aus der anderen Familie heiratet. Bei einem Tod ist es auch so: Bringst du einer Familie was mit, wird es dir später auch mal von dieser Familie mitgebracht. Man hilft sich aber auch gegenseitig, kauft einen Ochsen oder das Getreide. 

Ganz ehrlich, ich glaube nicht an diese Sache mit dem Geist des Toten und dass er es von uns Lebenden verlangt. Ich wäre auch fein damit, wenn man dieses Fest lassen würde. Man könnte viel sinnvollere Dinge tun, als viele Leute zusammenzubringen und sie mit Essen und Trinken zufriedenzustellen. Man könnte im Namen der gestorbenen Personen Menschen, die es brauchen, das Geld geben. Aber ich akzeptiere, dass viele Leute diese Feier brauchen – im Fall eines Todesfalls ist es nicht alleine meine Entscheidung, sondern auch die meiner Geschwister und anderer Leute. Ich würde dafür plädieren, die Feier auf ein Minimum zu reduzieren. Es passiert oft bei diesen Festen, dass Leute sich betrinken und auch Streit anfangen: Nur was hilft es deinem toten Vater oder deiner Mutter, wenn dein Nachbar sich in deinem Haus betrinkt?“

Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.