Ein Beitrag von Serge Palasie, Fachpromotor für entwicklungspolitische Bildung mit Fokus Afrika des Eine Welt Netz NRW.
Das koloniale Erbe prägt die Welt bis heute. Eine ökonomische Dynamik, die im Kolonialismus einsetzte und durch die Reichtum zunehmend in den Händen weniger konzentriert wird, breitet sich immer weiter aus und vertieft nicht „nur“ Ungleichheit zwischen reichen und armen Weltgegenden, sondern auch zunehmend innerhalb unserer Gesellschaft selbst.
Warum hält sich dieses Erbe so hartnäckig?
Warum sollte es zunehmend im allgemeinen Interesse überwunden werden?
Was können wir dazu beitragen?
Zwischen guten Absichten und widersprüchlichem Handeln
Ziel 10 der Nachhaltigen Entwicklungsziele (engl.: Sustainable Development Goals / SDG) fordert die Verringerung von Ungleichheiten innerhalb und zwischen Staaten. Eine wachsende Zahl von Menschen auch in Deutschland setzt sich erfreulicherweise für die ambitionierten Ziele ein – ob beim Ressourcenverbrauch, Umweltschutz oder beim Abbau verschiedener Diskriminierungsformen. Viele arbeiten auch im Sinne dieser Ziele, ohne jemals von ihnen gehört zu haben. Sie alle sind Pionier*innen einer besseren Welt. Das schiefe globale Big Picture tangieren sie aber – noch – nicht ernsthaft. Verantwortlich ist eine historische gewachsene, strukturelle Reproduktion verschiedener Formen von Ungleichheit. Was vielen nicht bewusst ist: Unsere mobile, ressourcenintensive „Art zu leben“ trägt dazu bei, dass strukturelle Ungleichheit reproduziert wird. Um Ungleichheit aber wirkmächtig begegnen zu können, dürften Perspektiven einer wie auch immer definierten „Wir“-Gruppe nicht auf Kosten von Perspektiven in anderen Gruppen aufgebaut bzw. aufrechterhalten werden.
Historisch gewachsene Doppelstandards als Herausforderung
Die Idee einer universellen Gleichheit bzw. Gleichwertigkeit entstand in Europa bzw. in der entstehenden christlich-abendländischen Welt beiderseits des Atlantiks erstmals seit der Antike wieder ab der sogenannten „Neuzeit“. Das geschah zeitgleich mit der Entstehung des transatlantischen Versklavungshandels und des Kolonialismus. Vereinfacht gesagt haben wir uns immer mehr innere ökonomische und geistige Freiheit und Gleichheit – kurz: „unsere ‚westlichen‘ Werte“ – leisten können, desto stärker wir die Welt beherrschten. Dass wir diese Zusammenhänge kaum kennen, hängt auch mit einer selektiven Bildungs- und Erinnerungspolitik zusammen.
Farbgefängnisse als koloniales Erbe behindern Empathiefähigkeit
Kind der Versklavungsökonomie der „Neuzeit“ ist der Rassismus, durch den ökonomische Interessen und der „sozialen Frieden“ innerhalb einer konstruierten „Wir“-Gruppe erstmals dauerhaft über äußerliche (Abgrenzungs)Merkmale gesichert werden konnten. Der Rassismus und die damit verbundenen hautfarbenbedingten Hierarchisierungen und Zuschreibungen haben sich verselbstständigt. Der Kolonialismus ist offiziell vorbei. Die „Farbgefängnisse“ bestehen weiter. Und wir alle sind mehr oder weniger in ihnen gefangen – egal, an welchem Ende der Hierarchie. Das behindert das Zusammenwachsen von Gruppen innerhalb einer Gesellschaft bzw. ein gleichberechtigtes zwischengesellschaftliches Miteinander im globalen Kontext. Wie auch bei anderen Diskriminierungsformen wie Sexismus oder Klassismus wird dadurch auch die universelle Entfaltung „unserer“ proklamierten Werte behindert. Heute werden die negativen sowie positiven Outputs einer transatlantischen Umverteilungsgeschichte meistens isoliert voneinander betrachtet. Werte hier, Ausbeutung da. Die Zusammenhänge sind kaum präsent. Gründe dafür: Unwissen, Verdrängung oder bewusste Leugnung. So entsteht eine paradoxe Situation: Strukturell Privilegierte möchten die Welt gerechter machen – ohne jedoch auch nur auf den kleinsten Teil ihrer Privilegien zu verzichten. Da die Unrechtsgeschichte, die ihre Privilegien ermöglichte, nicht Teil der Geschichte der Erlangung ebendieser Privilegien zu sein scheint, empfinden die meisten Menschen die Abgabe eines Teils ihrer Privilegien zugunsten benachteiligter Gruppen als ungerecht. Würden Ungleichheiten gemäß der oben angerissenen zentralen Forderung der SDGs wirksam reduziert werden, würde auch SDG 17 – gleichberechtigte zwischenstaatliche Partnerschaften zur Erreichung der sozial, ökonomisch und ökologisch motivierten 17 Ziele – eine echte Chance auf Verwirklichung haben. Tatsächlich läuft jedoch noch immer vieles auf eine Bestandswahrung hinaus. Viele internationale Partnerschaften, die von engagierten Bürger*innen oder unabhängigen Nichtregierungsorganisationen getragen werden, sind hier weiter als die internationale Politik einschließlich der zwischenstaatlichen „Entwicklungs“zusammenarbeit (EZ), die als Gefangene der wirtschaftlichen Wachstumslogik schwarze Zahlen schreiben muss.
Werte hier, Ausbeutung da.
Koloniale Kontinuitäten im Globalen Süden
Trotz der formellen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonial- und Mandatsgebiete ist der Einfluss ehemaliger Kolonial- und Imperialmächte immens. Das betrifft wirtschafts-, geo-, sicherheits- und finanzpolitische Bereiche.
Der Kampf um eine gerechtere Weltwirtschaft, die auch zunehmend Perspektiven im Globalen Süden schaffen und den Migrationsdruck in Richtung Globaler Norden senken würde, gestaltet sich zäh, läuft immer wieder auf Minimalkonsense hinaus und tut etablierten ökonomischen Strukturen nicht wirklich weh. Aber nur so hat zum Beispiel so etwas wie ein von der Idee her begrüßenswertes Lieferkettengesetz zur besseren Ahndung von Menschenrechtsverletzungen und Missachtungen von ökologischen Standards überhaupt eine Chance auf eine ansatzweise Realisierung. Auch Siegel müssen hier erwähnt werden. Sicherlich können sie zum einen die Produktionsbedingungen punktuell verbessern und zum anderen Konsument*innen als Orientierung dienen. Gesiegelte Produkte bedeuten allerdings nicht immer automatisch mehr Fairness und Nachhaltigkeit. Daher käme eine Haltung à la „Ich kaufe gesiegelte Produkte, also alles gut“ einem modernen Ablasshandel gleich, in dem es weniger um die Beseitigung von Missständen als vielmehr um die Beruhigung des eigenen Gewissens geht.
Grundproblem ist ein Wirtschaftssystem, in dem Wachstum Selbstzweck geworden ist. „Mehr Solidarität und Menschlichkeit? Ja, aber nur, wenn es sich mit Wirtschaftswachstum vereinbaren lässt!“ So oder so ähnlich klingen Aussagen vieler (nicht nur) deutscher Politiker*innen und Wirtschaftsvertreter*innen. Diese Logik ist der Rahmen, in dem sich auch viele an sich begrüßenswerte Gesetze, Siegel etc. bewegen. Eine Überwindung einer auf koloniale Zeiten zurückgehende unfaire globale Arbeitsteilung, die uns billig mit Rohstoffen versorgt, braucht mehr als Siegel und stark verbesserungswürdige Gesetze.
Eine Überwindung einer auf koloniale Zeiten zurückgehende unfaire globale Arbeitsteilung, die uns billig mit Rohstoffen versorgt, braucht mehr
…und wie sich ihre Logik auch im Globalen Norden ausbreitet
Der Logik der steten Senkung von Produktionskosten folgend macht ein auf Wachstum gedrilltes Wirtschaftssystem schon längst nicht mehr Halt vor den „eigenen Leuten“ hierzulande. Prekäre Arbeitsverhältnisse wie zu Beginn der Industrialisierung nehmen wieder zu – wenngleich es heute die klassische Arbeiterinnenschaft von damals nicht mehr gibt. Der Verweis auf den Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund fairerer globaler Lieferketten ist weitestgehend ein Scheinargument. Die Gewinne ganzer Branchen wären nicht mehr realisierbar, wenn die Beschäftigten angemessen bezahlt und behandelt werden würden. Große Bereiche der Landwirtschaft, Fleisch- und Bauindustrie oder der Pflege beispielsweise würden sofort zusammenbrechen, wenn hier wirklich die moralischen Standards gelten würden, für die wir immer so gerne weltweit werben.
Und wenn „alteingesessene“ Deutsche diese Arbeiten – zum Teil verständlicherweise – nicht verrichten wollen, findet man billige Arbeitskräfte aus dem Ausland (bzw. finden sich auch die deutschen Kinder von Migrantinnen nicht zuletzt aufgrund einer reformwürdigen Integrations- und Bildungspolitik überdurchschnittlich oft im Niedriglohnsektor wieder). Im Zweifel bestimmt also die Kostenkalkulation von Konzernen hierzulande längst darüber, wie viel ihnen eine Sicherung „deutscher Arbeitsplätze“ tatsächlich wert ist. Stimmen die Gewinnmargen nicht mehr, drohen Unternehmen offen mit Abwanderung. Letztlich repräsentiert das durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessene Wirtschaftswachstum in unserer Gesellschaft die Gewinnanhäufung immer kleinerer Gruppen und ist somit – entgegen der verbreiteten Rhetorik – immer weniger ein Gradmesser für mehr Wohlstand und Perspektiven für breite Bevölkerungsschichten. Der Preis: Wachsende Ungleichheit und die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Eine wachsende Perspektivlosigkeit gerade bei prekär Beschäftigten oder arbeitslosen Bürgerinnen kann zu einer Frustration führen, die unter Umständen in Hass gegen „Fremde“ mündet. Letzteres wissen vor allem Rechtspopulistinnen geschickt auszunutzen. Da aber rassifizierte Menschen aufgrund des demografischen Wandels einen immer größeren Teil der Bevölkerung ausmachen, richtet sich rechte Politik zunehmend gegen Deutschland selbst.
Angerissene ökonomische Dynamik produziert längst immer mehr „kleine Weiße“, die im unteren Sektor des Arbeitsmarkts – auch – mit „kleinen Nicht-Weißen“ um Perspektiven konkurrieren müssen. Aber: Die Rekultivierung von Rassismus unter dem romantisierenden Deckmantel der Volksgemeinschaft, die sich gegen vermeintliche Bedrohungen von außen behaupten muss, vermag hier keine langfristige Trendwende zu erzielen und kann daher keine Lösung sein. Es liegt an uns allen, wie wir auf eine solche „Teile-und-herrsche-Masche“ reagieren.
Der Preis: Wachsende Ungleichheit und die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Sich ändernde globale Konstellationen – und die Reaktionen darauf
Was gerade passiert, hängt mit dem größten globalen Kräfteverlagerungsprozess seit dem Entstehen einer transatlantisch dominierten Weltwirtschaft zusammen.
Der Aufstieg vor allem Chinas ist der Anfang der Widerlegung des Narrativs eines überlegenen Westens, der durch eine gemeinsame Ökonomie, gemeinsame Werte, gemeinsame sicherheits- und verteidigungspolitische Allianzen, aber auch durch ein unausgesprochenes weißes Selbstbild verbunden ist (Ein offenes Bekenntnis zu diesem Selbstbild ist spätestens nach 1945 aus der Mode gekommen).
Anstatt nun zu überlegen, wie sich unsere Gesellschaft weiterentwickeln müssten, um glaubwürdiger zu werden und überhaupt noch anschlussfähig zu bleiben, reagieren Teile der Gesellschaft fast beleidigt auf die Widerlegung der These, dass wir als „Westen“ das ewige Vorbild für den Rest der Welt seien. Achille Mbembe spricht treffend von gekränktem Narzissmus.
Am Beispiel Frankreichs lässt sich das aktuell deutlich machen: Ende Juli 2023 sagte sich mit Niger in weniger als zwei Jahren die dritte ehemalige französische Kolonie in Westafrika von der ehemaligen Kolonialmacht los. Die Widersprüche zwischen hehren moralischen Absichtserklärungen und den tatsächlichen ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen verstärkten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Politik Frankreichs. Im Mali kam hinzu, dass – ähnlich wie in Afghanistan – die Präsenz westlicher Truppen keine Besserung der Situation im Kampf gegen international operierende Islamistinnen-Netzwerke bewirkte. Paris reagierte überrascht und verständnislos. Eine kritische Selbstreflektion erfolgte nicht. Wären von paternalistischen Überlegungen und Gefühlen geprägte Denkmuster bei Teilen politischer Entscheidungsträgerinnen im „Westen“ tatsächlich mit dem Ende des Kolonialismus verschwunden, wären überraschte und verwunderte Reaktionen überschaubarer gewesen.
Um diesen Trend der Erosion der Glaubwürdigkeit aufhalten zu können, sind diejenigen Stimmen in unserer Gesellschaft, die unsere Werte nicht nur predigen, sondern leben, mehr denn je gefragt. Engagierte Bürger*innen können hier Pionier*innen sein und als Korrektiv einer teilweise von Doppelstandards geprägten Politik dienen – selbstredend übergangsweise, nicht dauerhaft.
Anstatt nun zu überlegen, wie sich unsere Gesellschaft weiterentwickeln müssten…reagieren Teile der Gesellschaft fast beleidigt auf die Widerlegung der These, dass wir als „Westen“ das ewige Vorbild für den Rest der Welt seien.
Klimaungerechtigkeit – Folge globaler Arbeitsteilung
Der menschengemachte Klimawandel trifft besonders Teile des Globalen Südens, obwohl er kaum eine historische Verantwortung dafür trägt. Am Beispiel Klimaungerechtigkeit lassen sich viele koloniale Kontinuitäten besonders gut sichtbar machen.
Die Industrialisierung, die entscheidend auf dem in den Jahrhunderten des transatlantischen Versklavungshandels erwirtschafteten Kapital aufbaute, machte uns überhaupt erst zu „entwickelten“ Industrienationen und schuf strukturell das, was noch immer viel zu oft als „Entwicklungsländer“ bezeichnet wird. Unsere Zoll- und Handelspolitik begünstigt eine auf koloniale Zeiten zurückgehende globale Arbeitsteilung. Und der menschengemachte Klimawandel nahm seinen Anfang im sich industrialisierenden Kolonialismus. Anstatt hier Verantwortung zu übernehmen, werden Zusammenhänge zum Teil bewusst ausgeblendet und Geflüchtete, die etwa aufgrund von Umweltdegradierung ihre Heimat verlassen mussten – zusammen mit dem Großteil der Geflüchteten – als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abgetan und kriminalisiert. Diese teils politisch motivierte Unterschlagung von Zusammenhängen fördert eine Empathielosigkeit gegenüber dem Globalen Süden, ohne die sich die restriktive EU-Migrationspolitik nicht mehr durchsetzen lassen würde.
Auch wir werden selbstredend zunehmend mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert, Stichwort Hitzesommer mit hohen Ernteausfällen und Waldbränden oder aber verheerende Überschwemmungen durch Starkregen. Paradoxerweise haben wir durch die den Klimawandel fördernde Wirtschaft die monetären und technischen Mittel, ihm bzw. seinen negativen Folgen zu begegnen – sei es durch Präventiv- oder Wiederaufbaumaßnahmen, Versicherungszahlungen und so weiter. So schlimm es ist, dass einzelne Menschen ihre Existenzgrundlage oder gar ihr Leben verlieren: Am Ende zwingt uns der menschengemachte Klimawandel (noch) nicht dazu, kollektiv unser Heimatland zu verlassen. Und anders als in vielen Weltgegenden ist der Kampf um knapper werdende Ressourcen wie Wasser oder Böden noch nicht ausgebrochen – zumindest nicht im innergesellschaftlichen Kontext, denn transnationale Player, die anderswo Land pachten oder Wasser privatisieren, zeigen, dass wir doch schon irgendwie mitkämpfen. Und dieser direkte oder indirekte Kampf fördert auch ethnische, geschlechtsspezifische oder religiös motivierte Konflikte. Dadurch entstehen Fluchtgründe, die auch von der Genfer Konvention zumindest theoretisch abgedeckt sind.
Unsere Zoll- und Handelspolitik begünstigt eine auf koloniale Zeiten zurückgehende globale Arbeitsteilung.
Ein selektives Geschichtsbewusstsein als koloniale Kontinuität
Die angerissene kollektive positive Selbstverortung in Bezug auf eine vermeintliche moralische Überlegenheit baut vielfach auf einem selektiven und relativierenden Geschichtsbewusstsein auf. So wird das Fortbestehen kolonialer Mentalitäten gefördert. Ein Beispiel: Die Halbherzigkeit und der Unwille, Ungerechtigkeiten zu überwinden, werden besonders sichtbar, wenn es etwa um die Diskussionen zum Umgang mit kolonial belasteten Begriffen, Bildern und anderen Darstellungen geht, die sich beispielsweise in der Literatur, Kinder- und Schulbüchern oder in den Medien wiederfinden. Der Umgang mit Kolonialdenkmälern, Straßennamen und anderen Ortsbezeichnungen, die Kolonialverbrechen und Kolonialverbrecher gedenken, gehört hier genauso dazu, wie die Debatte um die Rückgabe von Diebesgut einschließlich menschlicher Überreste, die in kolonialen Zeiten den Weg in unsere Museen fanden. Noch immer versuchen nicht wenige Menschen quer durch alle Bildungsschichten, die Kolonialzeit an sich und ihre negativen Auswirkungen für den Globalen Süden zu beschwichtigen oder zu relativieren. Solange das gelingt, wird unser Gedenken nicht überdacht. Viele denken noch immer, dass die Kolonialzeit etwa Afrika zumindest ein Stück weit aus einer unterstellten Rückständigkeit herausholte. Verfehlungen vermeintlich einzelner Kolonialverbrecher seien zwar bedauernswert, aber eben Einzelfälle.
Solche Narrative leugnen die Rolle einer gewaltsamen Umverteilungsgeschichte für die Gegenwart. So erscheint unser „Entwicklungsstand“ reines Resultat von Organisation, Fleiß, Innovationen und Überzeugungen unserer Vorfahren zu sein. Eine solche Sichtweise stellt umgekehrt die vielfach desolate Lage in Ländern des Globalen Südens als rein hausgemachtes Problem dar, das allein auf die unterstellte Unfähigkeit vor Ort zurückzuführen sei. Empathiefähigkeit wird so nicht gefördert. Solange aber „Otto-Normalverbraucherin“ nur die Narrative dieser politisch motivierten Geschichtsvergessenheit kennenlernt, kann ihr*ihm zunächst einmal kaum ein Vorwurf gemacht werden, wenn sie*er dies reproduziert. Denen, die es eigentlich in entsprechenden Bereichen im Bildungs- oder Politikbetrieb besser wissen sollten, aber schon. Hier würden automatische Schritte in die richtige Richtung erzielt werden, wenn unsere Demokratie die tatsächliche Repräsentanz der Bevölkerungsstruktur in allen Bereichen der Gesellschaft – auch und gerade auf allen politischen Ebenen – fördern würde.
Ablenkungsmanöver schmälern die eigene Verantwortung nicht
In dieser von kolonialer Amnesie geprägten Erinnerungskultur, die die eigene historisch gewachsene Verantwortung kleinredet, verweisen wir gerne auf die unfähigen und korrupten Eliten in den ehemaligen Kolonien bzw. auf neue Global Player wie China, die ja angeblich die „neuen Kolonialherren“ in Afrika und anderswo seien. Klar sind viele Eliten im Globalen Süden Teil des Problems – im Übrigen seit den ersten Tagen der transatlantischen Umverteilungsgeschichte. Sie profitieren von Status quo. Das bestreitet auch niemand, der*die sich ernsthaft und ohne einseitigem Romantisierungsdrang mit Süd-Nord-Themen befasst. Und klar vertritt China am Ende des Tages auch nur die eigenen ökonomischen Interessen in den ehemaligen Kolonialgebieten. Hier darf nichts beschönigt werden. Chinas Aufstieg, der unter anderem ohne die ökonomisch motivierte Auslagerung vieler Produktionssparten westlicher Betriebe und einer beispiellosen, vielfach nicht zu beschönigenden Mobilisierung von Wanderarbeitskräften im Land selbst nicht denkbar wäre, hat aber bisher keine gewaltsam am anderen Ende der Welt errichteten Handelsposten zu Folge. Niemand musste in Deutschland dafür sterben, dass die Neue Seidenstraße Chinas nun in Duisburg endet.
Aber genug. Es geht hier nicht um neue Player. Der kleine Exkurs diente nur dazu, um Scheinheiligkeiten anzureißen, die sich zu einem immer größeren Glaubwürdigkeitsproblem entwickeln. Wenn die Rede vom kolonialen Erbe ist, dann sollte der Fokus darauf liegen.
Wir alle können Ko-Autor*innen einer neuen Geschichtsschreibung werden, die auch bisher ausgeblendete Zusammenhänge berücksichtigt. Und diese reflektierte neue Geschichtsschreibung muss von Anfang an in der breiten deutschen Erinnerungskultur und -politik sichtbar werden.
Wir alle können Ko-Autor*innen einer neuen Geschichtsschreibung werden
Was können wir tun?
Wir alle haben Hebel, um strukturellen Ungleichheiten zu begegnen. Damit es gleich klar ist: Unser individuelles Engagement allein reicht nicht, um Unrechtsstrukturen zu verändern, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben und an denen auch gewachsene ökonomische und politische Interessen hängen. Dennoch ist unser Handeln ein nicht zu unterschätzender Anfang. Unser verändertes Verhalten beim Ressourcenverbrauch oder Konsum kann – je mehr Menschen es tun – auch langfristig Politik und Wirtschaft beeinflussen. Als Pionierinnen des Wandels haben engagierte Bürgerinnen schon oft langfristig die politischen Rahmenbedingungen mitbestimmt. Zu nennen sind hier etwa der allmähliche Umstieg auf erneuerbare Energien, das Lieferkettengesetz oder aber auch die Agenda 2030 mit ihren Nachhaltigen Entwicklungszielen. Auch wenn davon noch nichts perfekt ist: Ohne engagierte Menschen in der Gesellschaft hätten wir noch viel weniger. Lassen Sie sich also nicht belächeln bei ihrem Engagement und reagieren sie auf Sätze wie „Das bringt doch alles nichts!“ mindestens mit einem lächelnden „Doch!“ Denn: Darauf zu verweisen, dass unser individuelles Verhalten sowieso keinen Unterschied mache, geht als Ausrede für unreflektierten und unnötigen Ressourcenverbrauch mit allen negativen Folgen für Mensch und Umwelt hier und anderswo nicht durch. Je selbstbewusster wir unsere Werte leben, desto eher können wir zu Vorbildern werden für unser Umfeld, die Familie, den Freundes- und Bekanntenkreis oder die Arbeitskolleg*innen. Diese Wirkmacht haben nur Sie!
Um die Kluft zwischen wertebasiertem Denken einerseits und dem oftmals davon abweichenden Handeln anderseits zunehmend schließen zu können, müssen wir lernen in uns zu gehen und uns zu fragen: Was macht denn ein gutes Leben wirklich aus? Ab wann habe ich genug? Wann bin ich satt? Was brauche ich, um mobil zu sein? Wer leidet durch meinen „Überkonsum“? Durch unsere auf Wachstum gedrillte Wirtschaft haben wir in den meisten Bereichen schon längst mehr als wir brauchen. Teilweise häufen wir Dinge an, einfach, weil wir es können und es die anderen auch tun. Diese Dynamik müssen wir aufbrechen. Kurzfristiges schlechtes Gewissen – etwa, weil gerade wieder eine Dokumentation über die Ausbeutung von Kindern auf Kakaoplantagen oder die untragbaren Zustände in Massenschlachthöfen lief – kann zwar langfristig in einigen Fällen einem grundsätzlich veränderten Konsumverhalten vorausgehen. Meistens kehren wir aber nach kurzer Zeit wieder zurück zur antrainierten Gewohnheit, die dadurch, dass es die meisten genauso machen, als normal erachtet wird. Schnell verdrängen wir wieder Unrecht, das mit unserem Konsum einhergeht. Hier müssen wir es – wenn wir es mit unseren Werten ernst meinen – immer wieder versuchen. Es ist noch keine Meisterin vom Himmel gefallen. Das Ziel heißt sicherlich nicht für alle kein Fleisch, kein Auto oder keine neue Informations- und Unterhaltungselektronik. Jede*r von uns hat Bereiche, wo es uns leichter oder schwerer fällt einen Anfang zu machen. Wenn wir merken, dass weniger Konsum nicht automatisch Verzicht im Sinne von Entbehrung bedeutet, kann sich ein neues Konsumbewusstsein entwickeln, dass irgendwann immer automatischer funktioniert. Dieses neue Bewusstsein kommt jeden Tag nicht „nur“ Tieren, Menschen und Umwelt hierzulande oder anderswo zugute, die den Preis für den gegenwärtigen Überkonsum zu zahlen haben. Auch wir profitieren davon, weil wir zunehmend im Reinen mit uns selbst sind und ein bewussterer Konsum auch gesünder ist. Weniger Fett, Zucker, mehr Bewegung oder weniger psychologischer Druck, beim Anhäufen von Gütern und Dienstleistungen mithalten zu müssen: Unser Körper und unsere Seele wird´s uns danken. Zudem tragen wir durch veränderte Konsummuster zur Überwindung kolonialer Kontinuitäten im Globalen Süden bei.
Je selbstbewusster wir unsere Werte leben, desto eher können wir zu Vorbildern werden für unser Umfeld…
Change Makers im Globalen Süden unterstützen
Für unser Engagement im Globalen Süden gilt, dass wir verstärkt die Zivilgesellschaft vor Ort unterstützen sollten – ob finanziell, durch Wissenstransfer oder aber auch ideell. In vielen Ländern Afrikas etwa organisieren sich immer mehr junge Menschen in Netzwerken wie zum Beispiel „Africans Rising“, decken Machtmissbrauch auf und fordern mehr Teilhabe. Zudem sollten wir alles unterstützen, was eine Diversifizierung der Wirtschaft vor Ort fördert, also die Wertschöpfung vor Ort steigert. Dieser Bereich muss den Bereich der Projekte, die die überlebenssichernden „Basics“ abdecken, zunehmend ergänzen. Das schafft Perspektiven und kann den Migrationsdruck mindern. Eine dadurch angestoßene Perspektivenangleichung kann auch Respekt gegenüber Weltgegenden wiederherstellen, die seit der Kolonialzeit mit Vorurteilen zu kämpfen haben. Das kann wiederum auch positive Effekte bei der Überwindung rassistischer Stereotypisierungen gegenüber Menschen mit Wurzeln in ebendiesen Weltgegenden bei uns in Deutschland haben.
Ehrliche Selbstverortung
Wir alle können jeden Tag damit anfangen einen Unterschied zu machen. Dabei variiert unsere Handlungsmacht beispielsweise je nach Alter, sozialer Zugehörigkeit oder Beruf. So hängt es zum Beispiel auch vom Verdienst ab, wer sich regelmäßig fair und nachhaltig erzeugte Produkte leisten kann und wer nicht, oder vom Wohnort, wer tatsächlich ein Auto braucht und wer nicht. Wenn wir uns ehrlich selbstverorten, können wir nach bestem Wissen und Gewissen herausfinden, wo wir unseren ganz individuellen Anfang machen können oder in welchen Bereichen wir uns noch verbessern können.