Dieser Text ist ein Auszug des Buches „Wozu Rassismus“ von Aladin El-Mafaalani, erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag.
Rassismus ist ein Begriff, der zunehmend im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht. Dies liegt nicht nur an den vielen rechtsextremen Anschlägen (NSU, Halle, Hanau usw.), den Hunderten Todesopfern allein in Deutschland, dem Rechtspopulismus, der bei einem großen Teil seiner Wählerschaft einen vorher unsichtbaren Rassismus offenbart, der mit Formulierungen wie Fremdenfeindlichkeit, Xenophobie, Ausländerfeindlichkeit oder »besorgte Bürger« verdeckt wurde. Vielmehr haben sich in den vergangenen Jahren Aktivist:innen und soziale Bewegungen wie Black Lives Matter, #saytheirnames oder #metwo gebildet und etabliert, die Rassismus zu einem zentralen und relevanten Mainstreamthema haben werden lassen.
Die wissenschaftliche Bedeutung von Rassismus als Phänomen ist ebenfalls enorm. Die Beziehungen zu anderen Diskriminierungs- und Herrschaftsverhältnissen sind komplex und benötigen multiperspektivische und systematische Analysen. Rassismusforschung befindet sich in Deutschland noch in den Anfängen. Zugleich wandeln sich die Verhältnisse in vielfacher Weise: Rassismus verändert sich, weil rassistische Tendenzen lauter und aggressiver, nicht aber quantitativ relevanter werden; die sozialen Verhältnisse sind im Wandel, weil immer mehr schwarze Menschen, Muslim:innen und Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund – kurz People of Color (PoC) – auf allen Ebenen teilhaben, die Gesellschaft mitgestalten und zugleich klar und deutlich auf Rassismus hinweisen. Die radikalen Kräfte werden radikaler, während die Gesellschaft insgesamt immer offener wird – auch offener gegenüber Rassismuskritik.
Die Frage »Wozu Rassismus?« ist eine ernst gemeinte. Wie kann es sein, dass sich Rassismus dauerhaft hält? Wie lässt sich seine enorme Wirkmacht erklären, die die Weltgesellschaft und die meisten Nationalstaaten, wie sie heute sind, maßgeblich geprägt hat? Wie kann Rassismus derart hartnäckig bestehen bleiben, obwohl Menschenrechte, Demokratie und Wissenschaft ihm diametral entgegenstehen? All dies sind Fragen nach der Funktion. Die Antworten auf diese Fragen sind komplex.
Rassismus legitimiert Herrschaft, die Herrschaft führt dazu, dass sich die Ideologie bestätigt, die wiederum die Herrschaft legitimiert. All das kann dann schnell »natürlich« wirken. Herrschaft meint dabei insbesondere ökonomische und kulturelle Dominanz. Aber es gibt noch eine andere Funktion: Rassismus erzeugt Selbstwert durch Abwertung der anderen und Aufwertung der eigenen Zugehörigkeit. Diese psychologische Wirkung trägt auch zu seiner Stabilisierung und Persistenz bei. In allen Dimensionen, also der ökonomischen, der kulturellen und der psychischen, profitiert man als durch Rassismus privilegierte Person, ob man will oder nicht, und ein durch Rassismus negativ betroffener Mensch ist Risiken ausgesetzt. Es handelt sich um ein komplexes Herrschaftsverhältnis und um ein gesellschaftliches Strukturierungsprinzip, das alle Menschen (auf unterschiedliche Weise) betrifft. Wozu Rassismus? ist die übergeordnete Frage. Zunächst gilt es jedoch zu fragen: Was ist Rassismus? Beginnen wir klassisch mit einer Definition des Gegenstands.
Die meiner Meinung nach umfassendste und zugleich präziseste Definition stammt von der niederländischen Soziologin Philomena Essed: Rassismus ist »eine Ideologie, eine Struktur und ein Prozess, mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige ›Rassen‹ oder ethnische Gruppen angesehen werden. In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden.«
So präzise diese beiden Sätze formuliert sind, so komplex ist ihr Bedeutungsgehalt, der in den nächsten Kapiteln dieses Buchs analysiert, kommentiert und erläutert wird. Aber bereits hier soll diese Definition Wort für Wort ausgefächert werden, um Grundlagen und erste Zusammenhänge zu verdeutlichen und Querbezüge zu den folgenden Kapiteln herzustellen.
Ideologie. Rassismus ist eine Herrschaftsideologie, die dem jahrhundertealten Ideensystem der Rassenlehre entstammt. Die Konstruktion von Menschenrassen, die zudem hierarchisch geordnet werden, diente der legitimen Herrschaft von bestimmten Menschen über alle anderen Menschen. So wurde nicht nur die (globale) weiße Vorherrschaft (white supremacy) etabliert und gesichert, sondern auch als natürliche oder göttliche Ordnung legitimiert. Entsprechend hat Rassismus gleichermaßen ökonomische Ursachen und psychische Grundlagen, etwa die Aufwertung aufgrund der Zugehörigkeit zur »weißen Rasse«. Rassismus ist ein Erbe der Nationalstaatenbildung, des Kolonialismus, der europäischen Aufklärung und der europäischen Geistes- und Naturwissenschaften. Somit handelt es sich in keiner Weise um ein natürliches Phänomen und auch nicht um eine anthropologische Konstante: Weder gibt es biologische Menschenrassen, noch folgt Rassismus – verstanden als Angst, Feindseligkeit oder Herrschaftsbeziehung zwischen weißen und nicht-weißen Menschen – einem Naturgesetz. Es ist ein historisch gewachsenes und von den einstigen Eliten, sprich Klerus, Krone, Kolonialisten und Wissenschaftlern, entwickeltes Projekt, das die globalen politischen und sozialen Verhältnisse maßgeblich geprägt hat (vgl. Kap. 2). Heute wird Rassismus weitgehend geächtet, aber er besteht weiterhin fort.
Struktur. Während die rassistische Ideologie in der Vergangenheit staatstragend und damit ein explizites und rechtlich verbrieftes Herrschaftssystem war, ist es heute ein eher latentes und indirektes gesellschaftliches Strukturierungsprinzip. Rassismus als Struktur beziehungsweise struktureller Rassismus meint also, dass Rassismus kulturell tief verankert ist, unter anderem in den Wissensbeständen und den weiterhin enorm verbreiteten Vorurteilen, den ökonomischen Verhältnissen und der Sozialstruktur sowie schließlich in den normativen Legitimationsstrukturen der Gesellschaft. Oder anders: Die Gesellschaft und die globalen Verhältnisse sind derart strukturiert, dass es so aussieht, als gäbe es qualitativ differenzierbare Menschenrassen, auch weil heute enorme Ungleichgewichte und Ungleichwertigkeiten erkennbar sind, die ohne sichtbare Unterdrückungshandlungen oder wahrnehmbare Brutalität bestehen. Es gibt zur Erklärung der (Welt-)Verhältnisse also im Prinzip zwei große Angebote: Es existieren Rassen, oder es herrscht Rassismus (vgl. Kap. 3). Die gesellschaftliche und globale Hierarchiebildung funktioniert heute also weniger gewaltvoll und konsequent, stattdessen latenter, subtiler und weitgehend auch ohne Absicht und bösen Willen. Auch nach dem Ende des Kolonialismus sind rassistische Macht- und Dominanzverhältnisse derart strukturiert, dass die in ihnen Privilegierten nie Opfer dieser Verhältnisse sein können – wohl aber in anderer Hinsicht Diskriminierung erfahren können, etwa aufgrund ihrer sozialen Klassenzugehörigkeit, ihres Geschlechts oder aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen. Daher gilt es, Rassismus von anderen Herrschaftsprinzipien, Diskriminierungs- und Ungleichheitsdimensionen zu unterscheiden. Die spezifische Form, in der sich struktureller Rassismus innerhalb konkreter Branchen und in Organisationen umsetzt, wird als institutioneller Rassismus bezeichnet, also eine Form rassistischer Diskriminierung, die sich weitgehend unabhängig von den jeweils handelnden Menschen, sondern vielmehr durch institutionelle Routinen, Regeln und Verfahren vollzieht (vgl. Kap. 5).
Prozess. Innerhalb der strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen finden rassistische Diskriminierungsprozesse statt. Diese folgen einem idealtypischen Dreiklang: Es wird eine Differenz konstruiert und Menschen entsprechend dieser Differenz kategorisiert. Dieses Othering(zu Anderen/Fremden machen) folgt also einer Markierungs- und Differenzierungspraxis (mit der zugleich eine Wir-Konstruktion vollzogen wird); diese als andersgeartet Kategorisierten werden abgewertet, also als moralisch, kognitiv und anderweitig minderwertig in einem hierarchischen Gefüge positioniert; die Mitglieder dieser Gruppe werden nun ausgeschlossen, wobei dieses Ausschlussprinzip sich auf materielle Teilhabe sowie symbolische Anerkennung und soziale Zugehörigkeiten beziehen kann. Es handelt sich also um Deutungs- und Handlungsmuster. Sofern es sich um vorurteilsbezogenes beziehungsweise rassistisches Denken handelt, das aber (noch) nicht zu diskriminierenden Handlungen führt (eine Aussage kann bereits eine Handlung sein), spricht man im Englischen eher von bias, sobald Vorbehalte zu rassistischen Handlungen führen, eher von discrimination (vgl. Kap. 4).
Die rassistische Kategorisierung findet »auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften« statt. Hier wird der klassische Rassismus mit biologischem Rassekonstrukt genauso betrachtet wie der kulturell begründete Rassismus, der auch als Kultur-Rassismus oder Neo-Rassismus bezeichnet wird. Bereits von Beginn an gingen biologische und kulturelle (insbesondere religiöse) Begründungen für die Andersartigkeit eine Symbiose ein, die bis heute hält. Im Zeitverlauf hat sich die Gewichtung von einer stärker biologischen beziehungsweise natürlichen Begründung zu einer stärker kulturellen verlagert. Mit dem Begriff »Rassismus ohne Rassen« wird dieser Wandel ausgedrückt. Es gibt keine Rassen, sie waren eine Erfindung, die derart wirkmächtig wurde, dass sie selbst dann noch wirksam ist, wenn jede:r von diesem »Betrug« weiß. Während es etwa in Nordamerika heute immer noch die Rassifzierung von Menschen ist, die den Ausgangspunkt rassistischer Diskriminierung darstellt (also der Hautfarbe eine maßgebliche Rolle zukommt), lässt sich in Deutschland ein erweiterter Schwerpunkt erkennen, nämlich die Migrantisierung, die eine Rassifizierung inkludiert. Sie verläuft entlang des Knotenpunkts von Zugehörigkeit (Deutschsein), Abstammung (Herkunft) und sichtbarer beziehungsweise wahrnehmbarer Differenzen (insbesondere sprachlicher Akzent und Hautfarbe). Entsprechend ist der Diskurs geprägt von Fragen nach der Herkunft, dem Migrationshintergrund oder ob der Islam zu Deutschland gehöre – also sehr spezifischen Problemstellungen. Zudem werden migrantisierte Menschen häufig (bereits begrifflich) zu Fremden gemacht (Fremdenfeindlichkeit) oder zu Ausländern (Ausländerfeindlichkeit), selbst wenn sie weder fremd noch ausländisch sind.
Mit dem Begriff »Rassismus ohne Rassen« wird dieser Wandel ausgedrückt. Es gibt keine Rassen, sie waren eine Erfindung, die derart wirkmächtig wurde, dass sie selbst dann noch wirksam ist, wenn jede:r von diesem »Betrug« weiß.
In der Folge. Rassistische Diskriminierung erkennt man zunächst an der Wirkung. Man könnte es vergleichen mit einem Unfall, den man anhand des Unfallschadens bewertet. Der Effekt der Handlung, nämlich dass sie nach rassistischen Kategorien für bestimmte Menschen benachteiligend wirkt, ist das zentrale Kriterium. Sekundär für die Identifikation von Rassismus ist die Intention. Dennoch ist die Intention nicht unbedeutend, ganz im Gegenteil: Wer gezielt rassistisch handelt, also in rassistischer Absicht, vielleicht sogar mit einem geschlossenen rassistischen Weltbild, kann als Rassist:in bezeichnet werden. Ohne Absicht und »bösen Willen« ist man kein:e Rassist:in, hat aber dennoch rassistisch gehandelt. Nicht-intendiertes rassistisches Verhalten kann genauso von Menschen oder Organisationen ausgehen wie intendierter Rassismus, der etwa von rechtsextremen Menschen oder Organisationen ausgeht. Die Intention ist also keineswegs unwichtig, aber für die Identifikation von rassistischen Strukturen und Prozessen sehr nachrangig. Analog hierzu: Die Frage nach Mord oder Totschlag (also der Intention der Tat) stellt sich erst, wenn man festgestellt hat, dass überhaupt jemand durch Fremdeinwirkung gestorben ist.
Ohne Absicht und »bösen Willen« ist man kein:e Rassist:in, hat aber dennoch rassistisch gehandelt.
So weit die skizzenhaften Erläuterungen zur Definition. Sie machen deutlich, dass solche Herrschaftsverhältnisse derart durchdringend sind, dass ausnahmslos alle involviert sind, sei es durch Benachteiligung, sei es durch Privilegierung. Es gibt kein Außerhalb. Daher ist es von großer Relevanz, Rassismus aus der Perspektive der Betroffenen und als Erfahrungsraum zu analysieren, auch weil Rassismus Menschen persönlich, psychisch und körperlich beschädigt sowie hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Teilhabe benachteiligt (vgl. Kap. 6). Deshalb ist es besonders notwendig, Rassismus als umfassende und vielfältige pädagogische Herausforderung zu verstehen (vgl. Kap. 7). Von zentraler Bedeutung ist das Sprechen über Rassismus im öffentlichen Diskurs oder auch in Teilöffentlichkeiten, etwa im Beruf. Dies gelang bis vor einigen Jahren kaum, findet allerdings in zunehmender Intensität statt. Es ist allgemein erkennbar, dass Herrschaftsverhältnisse (zu weiten Teilen) aufgebrochen wurden und sich die Gesellschaft dadurch im Aufbruch oder Umbruch befindet. Wenn jahrhundertealte Herrschaftsverhältnisse thematisiert, kritisiert und verändert werden, muss dies zu Erschütterungen, Hitzigkeit und auch zu Übertreibungen führen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass nicht mehr nur über die Benachteiligung der Benachteiligten, sondern auch über die Privilegien der Privilegierten gesprochen wird – und auch darüber, dass alle involviert sind und damit niemand (oder jede:r) eine neutrale, objektive oder universalistische Position haben kann (vgl. Kap. 8).
Es ist allgemein erkennbar, dass Herrschaftsverhältnisse (zu weiten Teilen) aufgebrochen wurden und sich die Gesellschaft dadurch im Aufbruch oder Umbruch befindet.
Aus all diesen Erkenntnissen geht eine rassismuskritische Haltung hervor. Sie reflektiert, dass in den Herrschaftsverhältnissen Widersprüchlichkeiten angelegt sind, die man bei der Thematisierung und Bekämpfung von Rassismus kennen und aushalten muss. Entsprechend gibt es nicht per se die richtige Gegenstrategie – auch nicht die richtige Positionierung (ausführlich hierzu in Kap. 9).
Was in diesem Buch leider nicht angemessen berücksichtigt werden kann, ist die Tatsache, dass es verschiedene Rassismen gibt, von denen einige hier genannt werden sollen: International wird Anti-Schwarzen-Rassismus stark diskutiert; Anti-Roma-Rassismus (auch »Antiziganismus«) spielt in Europa eine große Rolle, weil Roma und Sinti in Europa die größte und zugleich am stärksten diskriminierte Minderheit darstellen, in der Vergangenheit war antislawischer Rassismus in Deutschland sehr präsent, wohingegen heute intensiv antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus diskutiert werden. Bisher am wenigsten im öffentlichen Bewusstsein ist der antiasiatische Rassismus. Menschen werden also wegen ihrer (nicht-weißen) oder trotz ihrer (weißen) Hautfarbe oder anderer sichtbarer Merkmale rassistisch diskriminiert. Nun ist die Realität so, dass es etwa schwarze Muslim:innen oder schwarze Rom:nja gibt, es also zu Überschneidungen kommt, die als Intersektionalitäten bezeichnet werden.
Intersektionalitäten gehen weit über die Rassismen hinaus. So sind weitere Verknüpfungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel: Klassismus (soziale Klasse/class), Sexismus (gender), Queerfeindlichkeit und Heteronormativität (LSBTIQ+), Ableismus (Behindertenfeindlichkeit) – um einige der wichtigsten zu nennen. All diese relevanten Identitätsmerkmale, die einen Menschen zwar nicht deterministisch beeinflussen, aber ganz sicher prägen, spielen zusammen und führen zu je spezifischen Sozialisationsbedingungen, Erfahrungshorizonten, Vulnerabilitäten und Diskriminierungen. Man ist selten in jeder oder in keiner Hinsicht privilegiert oder benachteiligt. Identitätsmerkmale sind zugleich Ungleichheitsdimensionen. Eine schwarze Frau mit Behinderung aus einer wohlhabenden Familie ist – ganz ohne jedes eigene Zutun – anderen Widrigkeiten und Risiken ausgesetzt als ein schwuler jüdischer Mann aus der Mittelklasse oder eine kopftuchtragende weiße Frau oder ein weißer Trans-Mann aus der Unterklasse. Intersektionalität wird mitgedacht, findet aber im Rahmen dieses Buches nicht ansatzweise die Würdigung, die adäquat wäre.
Man ist selten in jeder oder in keiner Hinsicht privilegiert oder benachteiligt.
Das Konzept Diskriminierung ist als horizontaler Ansatz immer schon intersektional, kann also gleichermaßen und mit ähnlichen Begrifflichkeiten und Analyseinstrumenten über alle Unterdrückungsmerkmale hinweg beziehungsweise mit allen zugleich verwendet werden. Zumindest das Potenzial zur Umsetzung einer intersektionalen Perspektive ist vorhanden. Der Nachteil des Diskriminierungsbegriffs ist, dass er stark auf den Prozesscharakter zielt und weniger auf ideologische, historische oder strukturelle Zusammenhänge verweist (vgl. Kap. 4).
In Vordergrund und Mittelpunkt steht hier Rassismus. Ich selbst habe an verschiedenen Stellen betont, dass Klassenfragen, also die soziale Herkunft (Einkommen, Vermögen, Bildungsniveau, Milieu), einen messbar wesentlich stärkeren Einfluss auf die Lebenschancen von Menschen haben als rassistische Diskriminierung. Allerdings werden die nachfolgenden Analysen und Darstellungen zeigen, dass das in der Vergangenheit anders war, und noch entscheidender: Diese Vergangenheit hat dazu geführt, dass migrantisierte und rassifizierte Menschen überproportional häufig unteren sozialen Klassen angehören, geringere Einkommen und Vermögen haben und von Bildungsbenachteiligung betroffen sind. Das heißt, dass viele PoC doppelt von Rassismus getroffen werden: zum einen durch die aktuelle rassistische Diskriminierung, zum anderen durch die Benachteiligung vor dem Hintergrund der Klassenherkunft (also indirekt aufgrund des historischen Rassismus). Gleichzeitig soll auch deutlich werden, dass es immer weniger Rassismus und Diskriminierung gibt, die Teilhabechancen von praktisch allen benachteiligten Gruppen besser sind als je zuvor. Die Existenz und das Fortwirken von Diskriminierung bei gleichzeitig steigenden Teilhabechancen führen zu einer polarisierten und überhitzten allgemeinen Stimmung in allen offenen Gesellschaften. Auch an dieser Überlegung erkennt man: Es ist komplex. Dieses Buch soll dazu beitragen, diese Komplexität aus mehreren Perspektiven verständlich zu machen.