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Whib’s Story – Folge 12: Was wir erzählen

24. April 2025

9 Minuten Lesedauer

Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden. Dies ist die letzte Folge der zwölfteiligen Serie.

Ich weiß so gut wie nichts von deinem Leben, hatte ich vor mehr als einem Jahr zu Whib gesagt, und dann: Wollen wir bei den Anfängen beginnen? 24 Gespräche habe ich mit ihm seither aufgezeichnet, sie dauerten zwischen 37 Minuten und zwei Stunden. Wir haben eine Routine miteinander entwickelt, und eine Vorfreude aufeinander. Ich erkenne sofort, wenn er eine andere Sitzposition eingenommen hat. Ich kenne sein Gesicht im dunklen Schatten und in einem überblendeten Licht, als sei er ein Engel. Manchmal habe ich mir für unsere Gespräche Themen ausgedacht, manchmal ließen wir uns einfach treiben durch die Stimmung, die aufkam, und Whib sagte nach einer Weile: „Verrückt, reden wir die ganze Zeit jetzt darüber? Ich erwähnte das doch nur kurz, ist das unser Tagesthema?“ Und ich antwortete: Ist das nicht schön? Ich habe mich darein verliebt, wie Whib „Tschüss, Sonja“ sagt, wie er diese zwei Wörter auf Englisch ausspricht, „Bye Sonja“. Ich versuche es zu imitieren, genauso zu intonieren wie er es tut. Ich habe mich in die Art und Weise seiner Abschlussformel verliebt, weil ich darin unsere Verbindung spüre, eine Wärme, ein Es-geht-weiter, vielleicht, kann ich sogar sagen, so etwas wie Hoffnung.

Im vergangenen Sommer gab es einen Moment, in dem ich mich über mich selbst wunderte, über die Art von Verbundenheit, die ich zu Whib aufgebaut hatte: Einen kurzen Moment zappte ich in die Olympischen Spiele und sah zufällig einen Langstreckenlauf, schaute dabei zu, wie Männer Runde um Runde liefen und über Hürden sprangen, und auf einmal erkannte ich in mir ein Gefühl des Mitfieberns: Ich drückte den drei Läufern aus Äthiopien die Daumen, ich wurde ganz aufgeregt, steigerte mich hinein, wollte sie unbedingt vor den anderen sehen. Weil ich durch Whib auf einmal einen Bezug zu einem Land hatte, mit dem ich vorher nichts Persönliches verband? Ich schämte mich: War das nicht nationalistisch gedacht, positiv rassistisch, und vor allem ganz schön platt? Was würde überhaupt Whib dazu sagen, war ihm diese implizite Art der Vereinnahmung recht? Ich habe ihm ehrlich gesagt nie von diesem Moment erzählt, aber ich frage mich seither: Was braucht es, um sich nah zu fühlen, verbunden? Was schafft das Erzählen, das Teilen von Leben? Welche gesellschaftliche und politische Macht hat es?

„Ich glaube, er hat sich durch sein Erinnern auch als einen Träumer erlebt.“

Als wir vor mehr als einem Jahr anfingen, miteinander zu telefonieren, hatte ich nur Umrisse davon, wer dieser Mensch ist: ein Äthiopier, ein Tigrayer, ein Mann, der (nicht nur) einen Krieg erlebte, ein Held?

 

Ich habe erfahren, dass Whib konsequent ist, ein eher ruhiger Charakter; keiner, der einen großen Aufschrei anzettelt, eher ein sanfter Revolutionär, ein gewissenhafter Arbeiter, der sich den Leben anderer widmet. Er hat kein alles überscheinendes Vorbild. Ihn insprieren Menschen, die sich  beständig einer Sache hingeben, die sich ihr selbstlos verschreiben, gerade dann, wenn sie für sie selbst keinen Komfort bedeutet; Menschen, die auf ihre eigene Kraft vertrauen, ihr erarbeitetes Wissen, ihren Verstand; die nach ihren Prinzipien handeln; die für das sterben würden, an was sie glauben. Ich habe Whib auch als Träumer erlebt, und das Besondere in diesem Zusammenhang ist: Ich glaube, er hat sich durch sein Erinnern auch als einen Träumer erlebt. Das Leben, wie es zuletzt war, hat ihm nicht viele Räume zum Träumen zugestanden. Durch Fragen, die ich stellte, reiste er zurück in die Kindheit, sah die Bäume, roch an Pflanzen, schmeckte das Brot. Er war selbst überwältigt von dem Film, der in ihm zu laufen begann, und manchmal erzählte er bei einem Folgetelefonat, dass ihm noch eine Erinnerung dazu gekommen war. Nicht selten wirkte seine Erzählung von dem Früher märchenhaft, und dann spürte er die Kugel von damals neben seinem Gesicht. Auch das gab es immer wieder: einen scheinbar fabelhaften Mikrokosmos, der an die enggesteckten Grenzen der Realität prallte, oft an die Gewalt.

Immer wieder lernte ich Whib in den vergangenen Monaten auch als Vater kennen. Er sei kein strikter, sagte er mir, „Durchschnitt“ in seiner Selbstbewertung. Jeden Tag aber frage er seine Kinder, ob sie gelernt hätten, ob ihre Hausaufgaben erledigt seien. Er sagte, dass er das als seine Aufgabe sehe: für ihre Bildung zu sorgen. Er erzählte mir von dem Moment vor vierzehn Jahren, als er Vater wurde, wie seine Frau und er im Krankenhaus waren, er zum ersten Mal sein Kind sah, einen Jungen. Wie ihn die Schwester nach dem Namen des Kindes fragte und er ihn aussprach: Luel. Dann fragte die Schwester nach dem Namen des Vaters. Und Whib sagte den Namen seines Vaters – dabei war er gefragt: sein Name war der des Vaters, aber Whib war zu emotional gewesen, um diese beide Dinge in diesem Moment miteinander in Verbindung zu bringen.

Wie ist es möglich, dass wir Menschen uns fremd erscheinen, wenn vieles, was uns täglich verbindet, gar nicht so weit entfernt voneinander liegt?

Wie oft wir in den ersten Minuten unserer Gespräche über unsere Kinder redeten! Über meinen Sohn, der schon mit zwei sagte, er wolle Sänger werden. Ich erzählte Whib, dass er die ganze Welt für ein Mikrofon hält und in alles Mögliche hineinsingt, egal ob Löffel, Blume oder Rührei; dass er schon am Abend festumschlungen mit seiner Ukulele im Arm eingeschlafen ist, auf einer Bühne in einer Bar gestanden hat und in der Fußgängerzone aufgetreten ist. (Als sie sich dann einmal im Videocall begegneten und Whib zu meinem Sohn sagte: „Ich will dich singen hören!“, und: „Zeigst du mir deine Gitarre?“ sang er natürlich nicht und holte auch nicht seine Gitarre). Whib erzählte mir von seinen Kindern: von Luel, dem Vierzehnjährigen, der einmal Fußballspieler werden möchte, den Brasilianier Neymar bewundert und gerne Spiele auf dem Handy spielt, und von dem Mittleren, neun Jahre alt. Er erzählte mir von einem Kollegen, der, solange Whib zwei Jungs hatte, behauptete, dass Whib gar keine Kinder habe, da Jungs mehr zur Mutter gehörten, Töchter zum Vater. Whib sieht das anders, er denkt, dass dies eine Sache der Erziehung sei und wie man mit Kindern umgehe, aber nach zwei Jungs hatte sich Whib tatsächlich eine Tochter gewünscht. Er bekam sie, inzwischen ist sie sechs Jahre alt und verlangt sofort, wenn er nach Hause kommt, nach seinem Smartphone, um Tiktok-Videos zu schauen. Whib erzählte mir, dass es doch in jedem Haus die gleichen Kämpfe gebe: Er halte seine Kinder immer dazu an, weniger Zeit für Fernsehen und Social Media zu verwenden, aber das sei einfach in ihnen drin. Sein Ältester habe einen Nachbar mal nach seinem Telefon gefragt. Der Nachbar antwortete: Mein Telefon hat keine Spiele. Dann gab er es Whibs Sohn, der im Handumdrehen ein Spiel fand, der Nachbar konnte es nicht glauben. Wie war das möglich – innerhalb von Sekunden, ein Spiel auf seinem Telefon? 

Wie ist es möglich, dass wir Menschen uns fremd erscheinen, wenn vieles, was uns täglich verbindet, gar nicht so weit entfernt voneinander liegt? Und wieder: Was braucht es, um sich nah zu fühlen? Allein: das Erzählen?

Whib, fragte ich einmal, was erzählst du eigentlich deinen Kindern? Es ist so unterschiedlich wie ihr aufgewachsen seid, erzählst du ihnen von dir als Kind? 

„Manchmal sage ich was, aber nur einmal habe ich mich wirklich mit ihnen hingesetzt, um ernsthaft meinen Hintergrund zu erklären. Es war in dem Zusammenhang, dass ich ihnen verdeutlichen wollte, wie wichtig Bildung ist. Ich erklärte, dass es Menschen gibt, die im Leben viel kämpfen müssen. Und dass es durch Bildung Wege gibt, die sonst versperrt sind. Ich sagte, dass sie es nicht als etwas Normales nehmen sollen, sondern ernsthaft bei der Sache bleiben müssen. Weil es nichts ist, das jeder bekommt. Ich sagte ihnen, dass sie ein besseres Leben haben sollen als ich. Dass ihre Zukunft besser sein könnte, weil ihre Basis besser ist. Ich sagte: Ich unterstütze euch, aber nutzt eure Zeit, teilt sie euch gut ein, wenn es ums Spielen und Lernen geht.“

Wie reagierten sie? 

„Ich glaube, sie mochten es.“

Was genau hast du ihnen aus deinem Leben erzählt? 

„Ich habe verglichen, was ich in ihrem Alter tat. Mein Sohn war bei dem Gespräch 13 und er hatte bereits einen kleinen ersten Laptop. Ich hatte mit 13 eine große Verantwortung, schon mit acht Jahren hütete ich ja allein die Tiere, holte Wasser und Feuerholz. Meine Frau und ich hingegen unterstützen unsere Kinder mit allem: beim Aufwachen, beim Händewaschen.“

Fährst du mit ihnen nach Hagua, in dein Dorf? 

„Nur der Älteste war einmal da, das ist aber schon lange her. Normalerweise fahre ich allein, meistens aus irgendwelchen Anlässen oder Zeremonien, der Weg dorthin ist nicht so einfach. Mit Kindern musst du es anders planen. Ohne sie ist es einfacher. Aber ich habe schon mal darüber nachgedacht, ihnen zu zeigen, wo ich herkomme, es dann aber nicht weiter verfolgt. Meine Frau kommt auch vom Land. Da waren sie zwei Mal. Sie haben also ein Bild davon bekommen, wie man Tiere hütet.“

Es aber nicht selbst gemacht? 

„Nein, das war nur aus Spaß. Nur um die Tiere zu sehen. Sie wollten auch nicht lange bleiben. Das Essen dort ist anders als bei uns in der Stadt. Nach zwei, drei Tagen wollten sie zurück. Sie sind sehr wählerisch. Ich sagte: Vielleicht müsst ihr mal länger bleiben, um zu sehen, wie Menschen hier leben. Ich will nicht, dass sie das gleiche durchmachen müssen, was ich durchmachte. Aber zu realisieren, wo wir herkommen, ist wichtig.“

„Für mich ist das normal, für meine Kinder nicht. Wenn sie Wasser aus dem Fluss trinken würden, würden sie krank werden.“

Deine Kinder haben Krieg erlebt. Sprecht ihr darüber?

„Sie thematisieren das nicht. Vielleicht haben sie einige Informationen von ihren Freunden oder sie hören etwas von uns, wenn wir darüber sprechen, aber meine Frau und ich sprechen nicht explizit mit ihnen über die Politik. Sie kommen von der Schule, machen ihre Hausaufgaben, spielen ihre Spiele, Tiktok.“

Als der Krieg begann, war dein ältester Sohn zehn.  

„Ja, und er verstand, was vor sich ging. Mit 16 gehen junge Männer zur Armee. Inzwischen ist er davon nicht weit entfernt. Nur zwei Jahre. Ich hoffe einfach, dass er seine Ausbildung beenden kann und ein friedliches Leben hat.“

Wissen deine Kinder, was du arbeitest? 

„Sie wissen, dass ich im Wassersektor arbeite. Ich habe ihnen mal gezeigt, wie nach Wasser gebohrt wird, und dass das Wasser aus dem Boden kommt, dass das den Menschen hilft. Aber das ist alles.“

Das Bild, über das wir mal sprachen: Ein Junge, der aus einem dreckigen Fluss Wasser trinkt. Kennen sie das? 

„Für mich ist das normal, für meine Kinder nicht. Wenn sie Wasser aus dem Fluss trinken würden, würden sie krank werden.“

Wissen sie etwas davon, dass der Wasserzugang auf der Welt sehr ungerecht ist? 

„Nein, davon habe ich ihnen nie etwas gesagt. Vielleicht sollte ich das aber tun. Heute erst war ich mit meinem Sohn in der Stadt und zeigte ihm einige Regierungsgebäude. Ich sagte ihm auch, wo man sich um Wasser kümmert. Aber mehr noch nicht.“ 

Wann, frage ich mich, sind wir bereit zu erzählen? Was braucht es dafür? Whibs Kinder sind noch jung, sie nehmen wahr, sie lernen: Was werden sie einmal von Whib und seinem Leben erfahren? Von dem Vater, der mal Kind war, von seinen Träumen und Ängsten, von der Kugel nah am Gesicht? 

In anderen Kontexten habe ich das oft erlebt: Wie das Erzählen und Adressieren viel schwieriger ist, wenn es in der totalen Nähe geschieht, von Eltern zum Kind. Was werden Whibs Kinder überhaupt fassen können, wenn er ihnen einmal ausführlich von sich erzählen würde? Welche Bilder würden entstehen? Der unüberwindbare Graben zwischen Erzählen und Erleben. 

Und noch eine Sache treibt mich dazu um: Whib sagte einmal zu mir, dass er von anderen Kindern gehört habe, sie wollten keine schlechten Dinge aus der Vergangenheit hören, die Vergangenheit sei doch schon vorbei, hätten sie gesagt. Wie geht es, das ehrliche, ernsthafte Erzählen, ohne dass es lähmt, sondern etwas in Gang bringt? 

Und nun, nachdem ich über ein Jahr mit Whib gesprochen habe, in Texten von ihm erzählte, versucht habe, ihn mit seinen Worten viel über sich selbst erzählen zu lassen, frage ich mich: Was von ihm ist erzählt, was ist unerzählt? Wo sind die Lücken? Wo ist er ausgewichen, wo wollte er nicht hinschauen? Wo bin ich ausgewichen, und warum? Weil es kompliziert wurde, undurchdringlich, weil ich blind war, voreingenommen oder zumindest: vorgeprägt? 

Whib hat einmal nach dem Lesen eines Textes über ihn zu mir gesagt: „Du hast wirklich jedes Detail hereingebracht. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich dir das alles erzählt habe.“

Doch: Was hätte Whib erzählt, hätte ich ihm keine einzige Frage gestellt, hätte ich keine Themen gesetzt, hätte ich nicht sortiert und ausgewählt, was letztlich in einen Text kommt? Was hätte er erzählt, wenn er ganz alleine auf einer Bühne gesessen und den Raum gehabt hätte, zum träumen und zum erinnern? Und was wird Luel in einigen Jahren erzählen, über den Vater, den er hat? 

Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.