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Whib’s Story – Folge 8: Perspektiven

23. April 2025

6 Minuten Lesedauer

Whibeslassie Tesfaslassie ist in der äthiopischen Gemeinde Hagua aufgewachsen, ohne Zugang zu Wasser und Bildung. Heute ist er Hydrogeologe und war am Bau von 6000 Brunnen beteiligt. Was bedeutet es, zu handeln, Verantwortung zu übernehmen, sich dem Leben anderer zu widmen? Das will die Autorin Sonja Hartwig mit ihm ein Jahr lang herausfinden. Dies ist Folge 7 der zwölfteiligen Serie.

Whibs und meine Begegnungen beruhen auf immergleichen wiederkehrenden Regelmäßigkeiten, so dass mich jede kleine Neuerung zum Staunen bringt. Whib, hast du dein Büro gewechselt?, rufe ich zu Beginn unseres Gesprächs aus, als wäre dies breaking news. Im Hintergrund sehe ich zum ersten Mal keine Bürolamellen, kein dumpfes Licht.

„Nicht mein Büro, nur die Position. Manchmal wechsle ich die wegen der Reflektionen.“ Whib, wie gewohnt auf seinem roten Schreibtischstuhl sitzend, trägt ein hellblaues Hemd, darüber eine blaue Weste; und obwohl die Beschreibung banal klingt, fällt sie mir auf: Noch nie, denke ich, habe ich ihn so gesehen. Immer schienen seine Umrisse in dem, was ihn umgab, zu verschwimmen; nie war er in einem so hellen, klaren Licht.

Wir wissen schon, worüber wir an diesem Tag reden wollen. Wir haben es das letzte Mal abgemacht, als unsere Internetverbindung hakte, wir uns nur noch bruchstückhaft verstanden und ich meinte, dass wir unser Gespräch nun besser beenden und bald weiter sprechen sollten, wir hätten ja noch Zeit. „Ja, ein Leben ist lang“, hatte Whib darauf geantwortet, und ich hatte spontan gesagt: Wir sollten unbedingt über deine Frau reden. Ich weiß nichts über sie. Das Einzige, was du mir über sie sagtest, ist, dass sie beim Händewaschen mehr Wasser benutzt als du. Whib hatte gelacht und zugestimmt.

Weiß deine Frau, dass wir über sie reden?

„Nein, ich habe ihr nicht gesagt, dass es um sie geht. Aber sie weiß, dass ich mit dir über mein Leben rede. Ich werde sie damit überraschen, dass sie hier nun auch eine Rolle spielt.“

Whib in gewohnter Perspektive an seinem Schreibtisch in seinem Büro.

Redet ihr viel miteinander?

„Über Politik reden wir immer wieder. Sie hat sich viele Jahre nicht dafür interessiert, schaute keine Nachrichten, sondern eher romantische Filme. Weil mir das aber wichtig war, hat sich das Tag für Tag bei ihr verändert: Vor einem ihrer Filme sahen wir immer die Nachrichten zusammen und so wurde sie immer interessierter. Und als der Krieg kam, hat sich das nochmal verstärkt: Auf einmal war die Politik so sichtbar in unserem Leben. Ich rede meistens über Politik, sonst rede ich nicht viel. Ich rede nicht über meine Gefühle. Darin ist sie besser. Ich teile einiges, aber nicht alles.“

Wie habt ihr euch kennengelernt?

„Wir haben gemeinsame Verwandte. Nachdem eine Frau starb, die wir beide kannten, waren wir bei demselben Treffen in ihrem Haus. Dort wurden wir einander vorgestellt und wir verabredeten uns zu einem Kaffee. Die anderen Mädchen sagten zu meiner Frau: Das ist ein guter Typ, er war auf der Universität, hat einen Job. Wir gingen Kaffee trinken, aber ich war noch nicht bereit.“

Bereit für was?

„Um zu heiraten. Ich hatte kein Haus, wohnte zur Miete. Und ich dachte, ich sollte erstmal eine feste Freundin haben, aber sie war bereit zu heiraten. Das lag vielleicht auch daran, dass ihre Eltern sich in der Zeit nach Männern für sie umschauten, sie aber die Entscheidung selbst treffen wollte. Sie war 23 damals, ich zehn Jahre älter. Wir begannen uns öfter zu treffen, so kam eins zum anderen. Irgendwann sagte ich zu meinem Vater: Ich möchte dieses Mädchen heiraten. Nach unserer Tradition müssen meine Eltern ihre Eltern fragen: Erlaubt ihr, dass unser Sohn eure Tochter heiratet? Mein Vater ging dann zu ihrer Familie, wir verlobten uns und zogen zusammen. Dann bauten wir das Haus, in dem wir nun leben. Elf oder zwölf Jahre ist das her.“

Und warum verbraucht sie nun mehr Wasser als du?

Whib lacht. „Sie ist auch auf dem Land aufgewachsen, in der Nähe von Aksum. Aber verglichen mit mir hatte sie weitaus bessere Bedingungen. In dem Ort, nah an einer Stadt gelegen, war das Problem, an Wasser zu kommen, nicht so groß. Die Qualität ja, aber nicht die Quantität.“

„Ein Leben einer Frau ist ein Leben einer Frau ist ein Leben einer Frau.“

All das, was Whib als Kind herausforderte, sagt er, sei bei seiner Frau nicht dagewesen: Sie hatte in der Nähe eine Schule, auf die sie ging; sie lebte auf flacherem Land, was die Wege einfacher machte, wenn sie doch mal Tiere hütete oder Wasser holte. Da sie mit mehreren älteren Schwestern aufwuchs, fielen die meisten der Aufgaben, die generell die Kinder in der Familie erledigten, nicht auf sie ab, und seine Frau habe einen entspannteren Alltag gehabt. Auch der Krieg, der Whib während seines Aufwachsens prägte, habe sie kaum berührt. In dem Ort, in dem sie lebte, blieb es friedlich.

Während Whib im Licht sitzend davon spricht, wie unterschiedlich ihre Voraussetzungen als Kinder waren, denke ich daran, was das, was ich mit Whib bespreche, eigentlich für das große Ganze aussagt: Sagt es überhaupt irgendetwas aus? Verstehe ich dadurch, dass ich mit Whib spreche, über ihn schreibe, das Leben eines afrikanischen, eines äthiopischen Menschen besser? Gibt es eine Metaebene, ein pars pro toto? Oder hat nicht schlicht einfach diese Formel Gültigkeit: Ein Leben ist ein Leben ist ein Leben. Was eben heißt: Whibs Leben sagt mir etwas aus über Whibs Leben. That’s it. Nur einige Kilometer weiter, einige Jahre später hat das Leben eines Mädchens, das später seine Frau werden sollte, unter ganz anderen Umständen begonnen – wenn Whib seinen Stuhl nur um einige Meter in seinem Zimmer verrückt, sehe ich einen anderen Ausschnitt, sehe ihn nicht nur im faden Licht, sondern so hell und klar wie nie.

„Das ist der Grund, warum sie Wasser verschwendet“, sagt Whib, „sie musste nicht so viel aushalten wie ich. Wenn sie eine Aufgabe bekommt, die sie nicht erfüllen möchte, sagt sie: Nein, das mache ich nicht. Ihre Mutter sagte mir, sie sei schon als Kind so gewesen. Ihre älteren Schwestern mahlten das Getreide, sie aber verweigerte diese Arbeit. Nie hat sie auf einem Stein das Getreide gemahlen.“

Hatte sie denn andere Herausforderungen?

„Sie erzählte mir von keiner speziellen. Sie ging zur Schule, ihre Familie war finanziell gut aufgestellt. Als ihre ältere Schwester heiratete und in die Stadt zog, ging sie dort zur Schule. Einmal sagte sie mir aber, dass sie Tiere hütete und eine Ziege blind wurde, weil sie den Stock in ihr Auge stach. Ihr Vater schlug sie darauf hin: Wie kannst du das einer Ziege antun? Das ist die einzige Herausforderung, von der ich weiß.“

Nachdem Whibs Frau die Schule abschloss, ging sie an die Universität in Mek’ele, machte einen Abschluss in Management und arbeitet heute im Regierungsbüro von Tigray in einem Finanzbüro, zuständig für die Verwaltung von öffentlichen Grundstücken. Für den Haushalt haben Whib und sie wechselnde, junge Frauen angestellt, die ihnen bei der Arbeit helfen, und eine Zeit lang bei ihnen wohnen. Whibs Frau bespricht mit ihnen die Essenspläne und erledigt die meisten Einkäufe, es sei denn, es steht etwas Größeres zu tragen an. Whib kümmert sich nach seinem Feierabend um die Bildung der Kinder; kontrolliert, ob sie gelernt haben und ihre Hausaufgaben machen, setzt sich mit ihnen hin, wenn sie etwas nicht verstanden haben.

Während in meinem Kopf Bilder aus dem Leben von Whibs Frau entstehen, laufen auf einer zweiten Spule parallel die Bilder ab, die Whib mir vor einiger Zeit über das Leben seiner Mutter gegeben hat, und als ich dies formuliere, kommentiert Whib die Offensichtlichkeit sofort: „Ja, sie sind so unterschiedlich.“ (Ein Leben einer Frau ist ein Leben einer Frau ist ein Leben einer Frau.)

Kennst du heute noch Frauen, die ein Leben führen, das dich an das Leben deiner Mutter erinnert?

„Viele Frauen auf dem Land sind heute noch harte Arbeiterinnen, auch wenn Neuerungen ihr Leben leichter gemacht haben: Das Mahlen von Getreide. Meine Mutter tat es den ganzen Tag, jeden Tag bis auf Sonntag, sie mahlte für das Frühstück, für das Mittagessen, das Abendessen, das Mahlen war ihr ganzes Leben. Heute sammeln viele Frauen Feuerholz, gehen lange Wege, um einzukaufen, und müssen Wasser holen. Sie kümmern sich um die Kinder, senden sie zur Schule. Die Verantwortung, die sie tragen, ist immer noch sehr hoch. Der Unterschied aber ist, dass viele Familien inzwischen mehr Verbindungen zur Stadt haben, dass ein oder zwei ihrer Mitglieder dort wohnen und gebildet sind. Wenn meine Mutter krank ist, fahre ich los und bringe sie ins Krankenhaus. Früher gab es diese Möglichkeit nicht.“

Verstehen sich deine Frau und deine Mutter, wenn sie so unterschiedliche Leben führen? Neidet deine Mutter ihr nicht das vermeintlich bessere, leichtere Leben?

„Nein, sie sagt dazu einfach, Gott habe es so gewollt. Es sei seine Entscheidung gewesen. Meine Frau und meiner Mutter wohnen weit voneinander entfernt. Meine Mutter kommt einmal im Jahr zu Besuch und wohnt nicht oft bei uns, weil meine Geschwister auch in der Nähe wohnen.“

Es ist also einfach keine Zeit für einen Konflikt?, frage ich, und Whib und ich müssen lachen.

„Aber ja, Konflikte entstehen doch, wenn du länger zusammen bist. Dann sagt die Mutter vielleicht etwas, was dich aufbringt; sie mischt sich ein: iss das oder iss das. Meine Frau und meine Mutter sehen sich nur zwei Tage im Jahr und an denen respektieren sie sich.“

Whib, ich vergaß ganz zu fragen, wie sie heißt, deine Frau: Ich sage immer nur deine Frau.

„Sie heißt Mulu. Das bedeutet: vollständig, ganzheitlich.“

Tust du mir einen Gefallen?

„Ja.“

„Ich kenne nun deine Sicht. Aber fragst du deine Frau einmal, was ihre größte Herausforderung im Leben war?“

Vielleicht, denke ich, muss ich noch einmal die Perspektive wechseln, um mehr zu sehen.

Sonja Hartwig ist Autorin. Sie hat viele Jahre als Reporterin gearbeitet und Reportagen und Portraits im Stern, im Spiegel und vor allem in der ZEIT veröffentlicht. Sie schreibt Bücher und arbeitet an künstlerisch-dokumentarischen Projekten zu persönlichen und gesellschaftlich existentiellen Themen wie Tod und Sterben. Zudem ist sie Co-Autorin des Buchs Alles Geben unseres Stiftungsgründers Neven Subotic.