Verstehen

Der lange Abschied von der weißen Dominanz

28. November 2023

11 Minuten Lesedauer

Charlotte Wiedemann

Zum Thema der kritischen Weißseinsperspektive haben wir ein Gespräch mit Millay Hyatt geführt, welches hier eingesehen werden kann:

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Und wir haben einen Kurzvortag von Neven Subotic begleitend zu diesem Artikel:

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Weiße Blicke auf Mobilität und Gewalt

Dieser Text ist ein Auszug des Buches „Der lange Abschied von der weißen Dominanz“ von Charlotte Wiedemann, erschienen in der dtv Verlagsgesellschaft.

Unsere Vorstellungen, was eigen und was fremd ist, werden nicht allein in nationalen Grenzen geprägt. Dahinter stehen gleichermaßen Phantasien über unseren Platz auf dieser Erde, ob bewusst oder unbewusst.

Unser Weltbild und unser Bild von uns selbst stehen in einem direkten Zusammenhang – und im Heimischen wie im Äußeren deutet alles auf Verunsicherung und Veränderung. Im globalen Maßstab ist der Machtverlust des Westens bereits so fortgeschritten, dass sich das Gefühl ausbreitet, die Welt sei aus den Fugen geraten. Die Redensart verrät die alte Gewohnheit, uns für das Zentrum des Geschehens zu halten. Tatsächlich ist jene Ordnung aus den Fugen geraten, wie die Alteingesessenen der globalen Einflussnahme sie kannten. Und von denen, die heute im Westen die internationale Lage analysieren, sind die meisten in der Ära des Kalten Krieges aufgewachsen, als die Welt so bipolar geordnet war wie in keiner geschichtlichen Phase zuvor.

In dem Zeitalter, das nun angebrochen ist, mag vieles nur als gewaltige Nicht-Ordnung erscheinen. Sicher ist indes, dass ein gravierendes Ungleichgewicht in eine bessere Balance gebracht wird: fünfhundertzehn Millionen EU-Europäer und dreihundertfünfundzwanzig Millionen US-Amerikaner dominieren nicht mehr die Geschichte einer Menschheit von demnächst acht Milliarden.

Europa ist dabei, zum Abendland in einer veränderten Bedeutung des Wortes zu werden: ein Ort von Müdigkeit, nachlassender Lebenskraft und purpurnen Sonnenuntergängen, wie der kamerunische Philosoph Achille Mbembe formuliert.

Die Zukunft ist nicht weiß – und so wenig wir heute zu sagen vermögen, wie die Deutschen in drei oder vier Jahrzehnten aussehen werden, so wenig kennen wir unsere künftige Stellung in der sich herausbildenden multipolaren Welt. Sind wir auf diese Ungewissheiten vorbereitet?

Zentralperspektive

Auf den Landkarten, wie sie üblicherweise benutzt werden, erscheint Europa größer, als es ist. Sobald die Erdkugel zweidimensional verflacht wird, entstehen Verzerrungen, und je näher es dem Äquator zugeht, desto mehr weicht die dargestellte Fläche eines Landes vom tatsächlichen Maßstab ab. Mit Europa, eigentlich eher ein Vorgebirge der asiatischen Landmasse, beginnen seit dem 16. Jahrhundert die Atlanten, und da es üblich wurde, die Weltsicht zu norden, ist Europa auf den von ihm selbst entworfenen Karten bestens im Blick, ein Kontinent von zentraler Bedeutung.

Von dieser geistigen Geografie sind wir geprägt. Unsere Größe zu überschätzen ist essentieller Teil des europäischen Lebensgefühls und untrennbar verbunden mit der kolonialen Vergangenheit. Ende des 19. Jahrhunderts befand sich ein wesentlicher Teil der Erde unter der Herrschaft der einen oder anderen europäischen Macht. Allein die Briten beherrschten auf dem Höhepunkt ihres Empires ein Viertel der Menschheit, so seltsam das bei einem Blick auf den gegenwärtigen Zustand ihrer Insel erscheinen mag. Englisch hat sich als Weltsprache britischem Besitztum längst entwunden, doch markiert das Kolonialreich zweifellos den Ursprung der sprachlichen Globalisierung.

Die meisten Menschen, denen man heute auf der Erde begegnen kann, waren in der Geschichte ihrer Gesellschaften auf die eine oder andere Art mit europäischer Vorherrschaft konfrontiert. Zeugnisse davon finden sich in den Überresten kolonialer Altstädte in tropischer Kulisse, und ich kenne sehr wohl das spontane Gefühl von Zuhause-Sein, das unsereinen an diesen Orten überkommt. Es ist leicht, derartige Hinterlassenschaften für den Ausweis kultureller Größe zu halten und dabei zu übersehen, mit wie viel Gewalt im Geleitzug europäische Architektur und Stadtplanung verbereitet wurde.

Noch etwas ganz anderes ist aus dem Blick geraten: wie groß die Bevölkerungen Europas einmal waren, im Vergleich mit anderen Erdteilen. Inmitten heutiger Ängste vor Einwanderung ist kaum mehr vorstellbar, dass 1850 in Europa doppelt so viele Menschen lebten wie in Afrika; die Relation war zweihundertsechsundsiebzig Millionen zu etwa hundertzehn Millionen. Und ein Jahrhundert später, 1950, gab es immer noch zwei Mal mehr Europäer. Durch die beschleunigte Alterung im wohlhabenden Norden hat sich die Demografie  heute zugunsten des Südens umgekehrt. Im 19. Jahrhundert aber, als das Zeitalter der Industrialisierung aufkam, wurden Teile der Bevölkerung Europas als ökonomisch überschüssig betrachtet; die Auswanderung und Kolonisierung entlegener Gebiete halfen, sich ihrer auf kontrollierte Weise zu entledigen.

Einige Jahrhunderte lang fühlte sich Europa berechtigt, mit einer gottgleichen Geste Bevölkerungen auf dem Planeten umzuschichten. Einerseits wurden mindestens zwölf Millionen Afrikaner in die überseeische Besitzungen gezwungen, andererseits der für überflüssig befundene einheimische Mensch als tendenziell gewaltbereiter Siedlungskolonist in die Ferne geschickt.

Was war die Quelle dieser Selbstermächtigung? Welches Selbstbild trieb die immense Expansion voran? Hören wir einen der angesehensten Repräsentanten der der europäischen Idee: Paul Valéry, geboren 1871, französischer Dichterfürst, Intellektueller und alles andere als ein Nationalist. Nach dem Ersten Weltkrieg, als er Europas Kultur von innen her bedroht sieht, meißelt er noch einmal ihre Sonderstellung heraus. ››Die anderen Weltteile hatten wohl bewundernswerte Kulturen ‹‹, schreibt Valéry in seinem Essay ›Die Krise des Geistes‹. ››Aber kein anderer Teil der Erde besaß diese seltsame physische Eigenschaft: intensivste Ausstrahlungskraft, verbunden mit intensivstem Absorptionsvermögen. Alles kam nach Europa und alles kam von Europa. Oder doch fast alles.‹‹

Natürliche Reichtümer seien zu gering, um die Vormachtstellung zu erklären, es müsse also an der Art der Menschen liegen. ››Ich kann diese Art nicht im Einzelnen analysieren; aber ein rascher Überblick ergibt, dass unersättlicher Tätigkeitsdrang, glühende und rein sachliche Neugier, die glückliche Verbindung von Phantasie und logischer Strenge, Skepsis ohne Pessimismus, Mystik ohne Resignation die spezifisch wirksamen Kräfte der europäischen Psyche sind.‹‹

Selbst in diesem dunkelsten Moment, nach den Gräueln des großen Krieges, nach Giftgas in Schützengräben und blutigen Massakern im Ringen um Kolonien, hat der Glaube an die eigene Singularität überlebt. Valéry war kein Rassist im engeren Sinne, er warb für die Aussöhnung der Kriegsgegner, gehörte einer Kommission des Völkerbundes an. Für ihn waren die Europäer nur schlicht überlegen. Europa war das Gravitationszentrum der Welt. Hier entsprang die Zentralperspektive, hier lag der natürliche Mittelpunkt aller Betrachtung.

Davon ist noch viel in uns Heutigen, in jedem und jeder Einzelnen, gerade in den liberalen intellektuellen Kreisen. Dieser spezielle Zentrismus, in dem wir uns als Weiße und Europäer neutral und voraussetzungslos fühlen, am Nullpunkt des Koordinatensystems, von wo aus unser Blick freundlich interessiert alle anderen streift, die nun einmal da sind, ohne dass wir sie brauchen würden für die Interpretation der Welt.

››Dezentrierung‹‹ wird in der Psychologie die vorsichtige Ablösung von dem Verankerungspunkt genannt, den jeder unbewusst für die Erdachse hält, obwohl es sich nur um den eigenen emotionalen und geistigen Ankerplatz handelt. Dezentrierung verunsichert, das trifft für die Angehörigen aller Kulturen zu, aber die Verunsicherung des weißen Blicks auf die Welt ist eine besondere Herausforderung. Das muss man wollen, es lässt sich nicht erzwingen. Ich betrachte die Befreiung des eigenen Blicks als ein Geschenk, aber nicht jeder empfindet so. Im Gegenteil.

Rechtspopulismus und autoritäre Revolte in Europa lassen sich als große Verweigerung jeglicher Dezentrierung verstehen, als starrköpfiger Versuch, den eigenen Stammespfahl gerade jetzt besonders tief in einen Boden zu rammen, der dafür längst zu porös ist. Denn gleichgültig, wie sich Europäer subjektiv und kollektiv verorten: Sie sind Objekt einer großen unaufhaltsamen Dezentrierung. Europa ist aus dem Zentrum vertrieben worden, jegliche Zentralperspektive ist dahin. Und wenn wir an einer Position festhalten, von der alle anderen sehen, dass sie nicht mehr existiert, sind wir lächerlich oder gefährlich.

Es besteht also ein eigentümliches, kompliziertes und widersprüchliches Verhältnis zwischen den beiden Varianten von Europäer-Gefühl. Auf der nationalen Bühne tritt ››der Europäer‹‹ kühl und fortschrittlich auf, als Gegner dumpfer Ressentiments. Im selben Augenblick kann diese Gestalt mit ihrem geschliffenen Selbstbild durchaus weiße Dominanzkultur verkörpern. Es handelt sich dann um monochrome Kosmopoliten, ihr Europa, genauer gesagt Westeuropa, ist immer noch die Verkörperung von Vernunft und Freiheit, und sie sind Repräsentanten einer Kultur, zu der sich der Rest der Welt komplementär verhält.

Weiße und schwarze Erinnerung

In der Berliner Wilhelmstraße 92, wo sich seinerzeit das Palais des Reichskanzlers befand, wurde Afrika aufgeteilt.

Auf Einladung des deutschen Kaisers kamen im November 1884 die Vertreter von zwölf europäischen Staaten sowie der USA und des osmanischen Reichs zusammen. Die wachsende Konkurrenz der Europäer um die afrikanische Erde musste eingedämmt und in geordnete Bahnen gelenkt werden, und als die Konferenz im folgenden Februar endete, war der Kontinent in der Tat fast lückenlos portioniert. Die Grenzen, wo sich die wechselseitigen Machtansprüche berührten, würden im Einzelnen später fixiert werden; niemand am Berliner Konferenztisch hatte eine blasse Ahnung, wie die Landschaften, die Sprachen und die Kochstellen beschaffen waren, die von den neuen Linien durchquert wurden. Im Großen und Ganzen sind es dieselben Grenzen, die heute über die Karte Afrikas ein fast geometrisch wirkendes Muster legen.

Kein Afrikaner war an diesem Vorgang beteiligt.

Ein Ereignis so monströs wie grotesk. Es gibt davon eine Urkunde; neben jeder einzelnen Unterschrift, links oben steil und schnörkellos die von Bismarck, wurde glänzender Siegellack in fetten roten Flecken aufgetragen, so üppig, als könnte damit die Echtheit und Authentizität eines eigentlich unvorstellbaren Akts der Anmaßung bewiesen werden.

Unvorstellbar – für wen? Einem gebildeten Afrikaner ist die Berlin-Konferenz ein Begriff, viele gebildete Deutsche haben nie von ihr gehört. Für die Nachfahren der Kolonisatoren ist das Datum 1884 hinter Gebirgen von Zeit versunken. Die Nachfahren der Kolonisierten empfinden sich hingegen als in einer Welt lebend, die ganz unübersehbar von den damals eingravierten Konturen gezeichnet ist.

So sind zwei Arten von kollektivem Gedächtnis entstanden, wir wollen sie das weiße und das schwarze Gedächtnis nennen, wobei das schwarze näher an dem ist, das man als Weltgedächtnis bezeichnen kann: die Summe kollektiver Erinnerungen vieler Völker. Der Kolonialismus ist darin lebendig mit einem weiten Spektrum an Erfahrungen, natürlich nicht nur afrikanischen. Unser schlechtes Erinnerungsvermögen ist eine Abweichung, eine partikulare Angelegenheit, und die Europäer sind dieser Tage gezwungen, sich diesbezüglich auf das Niveau der übrigen Welt hinauf zu bemühen.

Woher rührt die partielle Amnesie? Bei näherer Betrachtung ist sie vor allem  ein westdeutsches Phänomen: Die DDR verstand sich als antikolonialer Staat, ihre Geschichtswissenschaft war kritischer in der Betrachtung des Kolonialismus. Der profilierteste Forscher, der Rostocker Historiker Horst Drechsler, sprach 1966 in seiner Habilitationsschrift als erster Deutscher in Bezug auf Namibia von einem Genozid. Das Werk wurde von den Vereinten Nationen in mehreren Sprachen veröffentlicht – Wissen war also verfügbar.

Die Mehrzahl der Deutschen hatte indes bereits in den Tagen der Weimarer Republik das koloniale Abenteuer in einen Schleier der Nostalgie gehüllt; dahinter verblasste es allmählich zu einer beiläufigen Episode, bis irgendwann alles kaum mehr als ein Spleen gewesen zu sein schien. Danach war es leicht, sich rückblickend aus dem Gesamtschema des europäischen Kolonialismus auszuklinken. Wir waren die Harmlosen.

Tatsächlich hat Deutschland imperiale Bestrebungen später als Frankreich und Großbritannien verfolgt und seine Gebiete bereits mit dem Ende des Ersten Weltkriegs verloren. So klein war der Kolonialbesitz indes nicht, die Gebiete in West-, Ost- und Südafrika sowie in China und Ozeanien summierten sich immerhin zur sechsfachen Größe des Kaiserreichs. Entscheidend ist aber das Unheil, das in der kurzen Spanne von weniger als vier Jahrzehnten angerichtet wurde. Die Schrecken des 20. Jahrhunderts begannen nicht auf den Schlachtfeldern von Verdun, sondern in den Wüsten- und Buschregionen des deutsch besetzten Afrika.

Der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwest war nie ein verschwiegenes Verbrechen, er vollzog sich in der Öffentlichkeit des Kaiserreichs. Feldpostkarten mit den Fotos ausgemergelter Gefangener wurden nach Hause geschickt, und bunte Sammelbildchen mit Illustrationen vom Aufstand lagen als kommerzielle Werbung in den Packungen von Kakao, Kaffee und Schokolade. Lothar von Trotha, Kommandeur der Schutztruppe, war überzeugt, einen ››Rassekrieg‹‹ zu führen, und er intonierte seinen berüchtigten Schießbefehl vom 2. Oktober 1904 so theatralisch, als sei er für die Geschichtsbücher gedacht: ››Ich der große General der Deutschen Soldaten sende diesen Brief an das Volk der Herero…‹‹

Weithin unbekannt ist der fast zeitgleich geführte Maji-Maji-Krieg in Ostafrika. Auch hier wurde eine Aufstandsbewegung niedergeschlagen, mit überschießender Gewalt. In welchem Maße Afrikaner Widerstand leisteten, das ist aus dem europäischen Gedächtnis, nicht nur dem deutschen, fast gänzlich getilgt, zugunsten eines Bildes vom afrikanischen Menschen, der phlegmatisch erduldet und keine Initiative ergreift. Nimmt man den sinnlosen und überaus blutigen Feldzug zur Verteidigung der ostafrikanischen Kolonie im Ersten Weltkrieg hinzu, dann haben die Deutschen in Afrika schätzungsweise eine Million Tote hinterlassen. Für keines der drei Großverbrechen wurde ein Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen. (Die Straflosigkeit für Befehlshaber moderner Invasionen, wie im Irak, nehmen sich darauf wie ein fernes Echo aus.)

Die exzessive Gewalt wirft Fragen auf, die sich nicht mehr hinter die Gebirge von Zeit zurückstoßen lassen. ››In den Kolonien zeigt sich zeigte sich die Wahrheit nackt‹‹, schrieb Frantz Fanon in den 1950er-Jahren. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Deutschen noch nicht bereit, sich der Wahrheit des Holocaust zu stellen. Und was die Gewalt beider Epochen möglicherweise verbindet, bereitete auch später kaum jemandem schlaflose Nächte. 1967 erschien ››Die Unfähigkeit zu trauern‹‹ von Margarete und Alexander Mitscherlich; waren die kolonialen Opfer da mitgemeint?

Ich erinnere mich an einen Abend irgendwann in den 1970er-Jahren, der größte Hörsaal der Universität Göttingen war heillos überfüllt. Es sprachen Vertreter (vermutlich nur Männer) von Befreiungsbewegungen im südliche Afrika über die letzten Kolonien, die Apartheid, wir applaudierten und sangen und reckten die Fäuste, ein Audimax voller junger Weißer identifizierte sich mit dem schwarzen Widerstand, mit der antikolonialen Seite.

War das nur eine andere Art, sich dem eigenen Erbe der Gewalt nicht zu stellen?

Maji-Maji und die Liebe zum Tier

Es gleicht einer Belästigung, auf ein historisches Verbrechen hinzuweisen, das weithin unbekannt ist. Zumal wenn es dafür keinen anerkannten Rahmen im offiziellen Gedächtnis gibt, so wie es bei allem der Fall ist, was den Holocaust betrifft. Die meisten Deutschen wissen nicht die Namen aller NS-Vernichtungslager, doch würden nur die wenigsten darauf beharren, dass ihre Unkenntnis völlig berechtigt sei.
Beim Kolonialismus besteht hingegen ein weithin akzeptiertes weißes Recht auf Nichtwissen, und wenn das apostrophierte Verbrechen dann noch unter dem Namen ››Maji-Maji‹‹ daherkommt, trifft es auf ein unbeteiligtes Lächeln.

Ein großer Kolonialkrieg, der im Nationalbewusstsein Tansanias eine bedeutende Rolle spielt, gleicht bei uns einer Leerstelle. Aus Gründen, die ich selbst kaum in Worte zu fassen vermag, beschäftigt mich die Beziehung zwischen dieser Leere, diesem gedanklichen Nichts und der physischen Ausdehnung des Kriegsgebiets: zweihundertfünfzigtausend Quadratkilometer, was etwa zwei Dritteln der Fläche Deutschlands entspricht. Auf diesem Gebiet wurde von 1905 bis 1907 der Maji-Maji-Krieg ausgetragen; es handelt sich um Afrikas ersten, noch vergeblichen Kampf um Befreiung.

Maji bedeutet in Swahili Wasser; die Aufständischen glaubten, durch eine Medizin dieses Namens unverwundbar zu sein, und hatten deswegen anfänglich keine Furcht vor deutschen Maschinengewehren. Das klingt archaisch, doch dehnte sich die Bewegung de facto durch ihre modernen Elemente aus. Als Reaktion auf Repression, Kopfsteuer, Zwangsarbeit und Landraub begann sie mit Sabotage auf einer kolonialen Baumwollplantage und vermochte dann mithilfe einer Endzeitideologie zahlreiche Ethnien und Volksgruppen zu einen. Je nach Region griffen die Kämpfer einheimische Gebräuche und Bedürfnisse auf, bezogen auch islamische Riten ein, um Muslime als Kombattanten zu gewinnen.

Zur Eindämmung des Aufstands bedienten sich die Deutschen eines probaten Mittels jedweden imperialen Krieges: verbrannte Erde. Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, Vorräte vernichtet, Brunnen vergiftet, auf Feldern blieb nur Asche. Nach zwei Jahren Krieg lagen ganze Landschaften stumm und brach. Historiker schätzen die Zahl der einheimischen Opfer des Krieges auf bis zu zweihundertfünfzigtausend, die meisten verhungerten. Die deutsche Seite verzeichnete kaum mehr als ein Dutzend Tote.

Die weitgehend entvölkerten, menschenleeren Räume wurden von der Kolonialregierung unter Schutz gestellt – Schutz für Wildtiere. Ein Jagdverbot für die Einheimischen war zuvor schon einer der Auslöser der Rebellion gewesen; nun machte die Vernichtung der Bevölkerung den Weg frei für weiteren Naturschutz.
Die afrikanischen Nationalparks gehen auf koloniale Unterwerfung zurück; der Biologe Michael Stiller, Leiter der Abteilung Naturkunde am Bremer Übersee-Museum, machte mich als Erster auf diesen Zusammenhang aufmerksam, den er, ein eher unpolitischer Experte, als schwer erträglich beschrieb. Die Liebe zum afrikanischen Tier hat ihre Kehrseite in der Verachtung des afrikanischen Menschen, das ist heute kaum anders. Der Slogan ››Faszination Afrika‹‹ wird stets mit Aufnahmen von Elefanten, Löwen, Landschaften illustriert. Ein Naturraum ohne Technik, ohne Mensch, ohne ein Zeugnis von Wissenschaft ist unser liebstes Afrika, und oft schwingt mit, dass wir auf dieses Afrika besser aufpassen als sie Afrikaner. Serengeti darf nicht sterben.

Ein Künstlerevent in Berlin wurde von seinem Initiator ››Ngorongoro‹‹ getauft, nach einer weiten Kraterlandschaft im nördlichen Tansania. Weil dort seltene und vom Aussterben bedrohte Tierarten leben, gefiel es den Großstadtkünstlern, sich bei ihrem artist weekend derart als bedrohte Spezies zu inszenieren. Auch für sie war selbstverständlich, nichts wissen zu müssen, wenn es um Afrika geht. Der Ngorongoro-Krater wurde mit Gewalt durch die deutsche Kolonialregierung entvölkert, die Massai, die dort ihre Weidegebiete hatten, wurden 1907 in ein Reservat vertrieben.

Zur shared history ist noch ein weiter Weg. In Tansania hört jedes Schulkind vom Maji-Maji-Krieg als dem Beginn des nationalen Ringens um Unabhängigkeit; ein Memorial Museum gedenkt der Kämpfenden und der Opfer. Dorthin wird nun zurückgegeben, was Deutsche im Krieg erbeuteten, Speere und andere Waffen, sie lagen seit über einem Jahrhundert als sogenannte Ethnografica in Berlins Sammlungen. In Tansania werden sie objects of resistance genannt. Entkolonisierung bedeutet, den Dingen wieder ihre richtigen Namen zu geben.

Dieser Beitrag ist Teil des Projekts „Globale Ungerechtigkeit erkennen, verstehen – und mindern.“.

Gefördert durch ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln des